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Version vom 9. Juni 2022, 12:59 Uhr
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Aperspektivische Objektivität
Dieser Artikel beschäftigt sich mit dem Konzept der aperspektivischen Objektivität, wie es vor allem von der Wissenschaftshistorikerin Lorraine Daston dargestellt wird.
Aperspektivität als Komponente der Objektivität
In unserem alltagssprachlichen Gebrauch verstehen wir heute unter objektiv etwas, was „sachlich, unvoreingenommen, unparteiisch“ ist und „unabhängig von einem Subjekt […] tatsächlich“[1]existiert. Lorraine Daston zufolge, ist unsere heutige – auch fachsprachliche – Verwendung des Begriffs jedoch „auf hoffnungslose […] Weise verworren“, da sich darin verschiedene und voneinander zu unterscheidende Bedeutungsebenen überlagern. Daston unterscheidet zwischen drei Komponenten:
- metaphysische Objektivität, d. h. eine Bezugnahme auf die „Objektive Wahrheit“, auf „das Empirische“ bzw. „das Faktische“ oder „wirklich Wirkliche“
- methodische Objektivität, im Sinne „objektiver Verfahren“, oder ungefähr synonym für „das Wissenschaftliche“ als Garant für empirisch zuverlässige Befunde
- moralische Objektivität, d. h. bezogen auf eine „objektive Haltung“, die sich durch „Unparteilichkeit bis zur Selbstverleugnung und für kaltblütige Beherrschung der Gefühle“ und damit vom Zurücktreten von der eigenen Perspektive auszeichnet. [2]
Die in diesem Artikel beschriebene und auf eine spezifische Haltung bezogene „aperspektivische Objektivität“ ist dementsprechend nur eine Komponente der Objektivität. Dennoch dominiere sie laut Daston unseren heutigen Objektivitätsbegriff, [3] wie auch in der obigen alltagssprachlichen Verwendung von objektiv deutlich wird, welche sich fast ausschließlich auf diesen Aspekt beschränkt.
Aperspektivische Objektivität idealisiert eine Haltung ohne persönliche Einflussnahme, bei der das individuell Subjektive ignoriert werden soll, um die Suche nach „Wahrheit“ nicht zu behindern. Da Menschen immer persönliche Erfahrungen machen und individuelle Vorannahmen treffen, sind Befunde auch immer dadurch beeinflusst. Diese individuellen Eigenarten sollen für das Ideal der aperspektivischen Objektivität eliminiert werden, wobei kein eliminieren aller „Eigenarten“ gemeint ist, da Forscher *innen immer noch ihre notwendigen Fähigkeit als Forscher*innen haben müssen, um beispielsweise eine schwach leuchtende Substanz zu erkennen [4]. Doch geht es darum den eigenen Standpunkt zu überkommen, oder besser noch: „den“ Standpunkt allgemein. Aperspektivität zielt auf den „Blick von nirgendwo“ [5].
Historische Ursprünge der aperspektivischen Objektivität
Laut Daston hat das heute stark mit den Naturwissenschaften verbundene Konzept der Aperspektivität seinen historischen Ursprung in der Ästhetik und Moralphilosophie des 18. Jahrhunderts. Erst zu dieser Zeit wurde der Begriff Objektivität im Sprachgebrauch nicht mehr nur in seiner metaphysischen Bedeutung verwendet, sondern auch für Unparteilichkeit und Unvoreingenommenheit zu stehen. Diese Dimension der Objektivität wurde jedoch nicht, wie aus heutiger Sicht zu vermuten wäre, in den aufstrebenden Naturwissenschaften dieser Zeit geprägt, sondern findet laut Daston ihren Ursprung im Kontext von moralischen Fragen und ästhetischen Urteilen. 1757 spricht David Hume in „Of the Standards of Taste“ davon, dass man sein „individuelles Sein“ und „die eigenen Lebensumstände“ vergessen solle, um die Schönheit eines Kunstwerks angebracht zu beurteilen. Tut man dies nicht, weicht der „Geschmack offensichtlich vom wahren Maßstab ab, und folglich verliert er alle Autorität und Glaubwürdigkeit.“ [6]. Hume fordert für das Fällen ästhetischer Urteile somit jene unvoreingenommene, unparteiische und von der eigenen Person unabhängige Haltung ein, die sich im heutigen Sprachgebrauch des Begriffes „objektiv“ zeigt. Jedoch geht es ihm um das Einnehmen verschiedenster Perspektiven und nicht um den „totalen Rückzug aus der Perspektive, der mit dem ‚Blick von nirgendwo‘ einhergeht.“ [7]. Dies, so zeigt Daston, fordert zur selben Zeit Adam Smith im Kontext moralphilosophischer Urteile ein. Wie Hume geht es auch Smith um das Erkennen „wahrer Maßstäbe“ beim Urteilen, also dem Erkennen einer Objektivität im metaphysischen Sinne [8]. Die beste Möglichkeit ein solches Urteil zu fällen besteht für Smith darin, vom Standpunkt einer imaginierten dritten Person, die freigesprochen von Beziehungen und Einstellungen ist, auf etwas zu schauen [9]. Im 18. Jahrhundert wird also Distanz und Unparteilichkeit als Ideal gefordert, allerdings in der Ästhetik und Moralphilosophie und nicht wie angenommen, in der Wissenschaft. Bei der aperspektivischen Objektivität muss auch die „natürliche Position“ überwunden werden, aber hierbei handelt es sich noch um „universale Schönheit“ und nicht um die materielle Natur [10].
Aperspektivität in den Naturwissenschaften
Dastons These ist, dass das Konzept der aperspektivischen Objektivität Mitte des 19. Jahrhunderts aus der Moralphilosophie und der Ästhetik in den Naturwissenschaften aufgenommen wurde. Grund hierfür war laut Daston das Entstehen einer „wissenschaftlichen Gemeinschaft“. Vorher basierte wissenschaftliche Erkenntnis auf Hierarchie und Erfahrung, galt die Autorität einzelner Forschungspersönlichkeiten, was im scharfen Kontrast zu einer perspektivlosen Sicht ist. Vor dem 19. Jahrhundert gab es bis auf Briefwechsel einzelner Forscher*innen kaum mit heute vergleichbare wissenschaftliche Korrespondenz: Der vorhandene Austausch beschränkte sich auf Freundschaften (oder Feindschaften) der Gelehrten also um „hochgradig selektive Verbindungen zwischen Gleichrangigen“ [11]. Austausch verlief beschwerlich über Briefe und Postwege und somit langsam. Einzelne Forschungspersönlichkeiten, welche die erforderliche Erfahrenheit und das benötigte Geschick für Forschung hatten, stehen zu der Zeit noch im Kern des wissenschaftlichen Erkennens [12]. Diese homogene Gruppe wurde vielschichtiger und begann sich durch den Infrastrukturwandel im 19. Jahrhundert zu vernetzen: Post, Eisenbahn und Telegrafie sorgten erstens für Kommunikationsmöglichkeiten, die die Entstehung einer „Scientific Community“ ermöglichten, und damit einem neuen Verständnis von Wissenschaft als einem überzeitlichen Kollektiv, bei dem einzelne Personen bloß „einen Baustein zu dem großen Bauwerk hinzufügen“ [13]. Zweitens wuchs somit auch der Bedarf an einem standardisierten Austausch, einer Entkopplung der Forschung von den Forscher*innen und den Wunsch nach der Möglichkeit des Vergleichen und der Wiederholbarkeit von Versuchen. Als Folge mussten sowohl die Methoden als auch die zu untersuchenden Phänomene standardisiert werden um Forschungsbefunde vergleichen und Experimente wiederholen zu können. So wurde aperspektivische Objektivität auch zum Ideal in den Naturwissenschaften, zusammen mit dem Aufkommen eines wissenschaftlichen Austausches. [14]
Aperspektivische Objektivität und ihre Konsequenz/ Folgen
Laut Daston mussten aufgrund der Forderung nach Objektivität im neunzehnten Jahrhundert einige wissenschaftliche Werte aufgegeben werden. Darunter vor allem das wissenschaftliche „Handwerksgeschick“ [15]. Als Die Wissenschaft weiter fortschritt, wurde aus der Autorität und Befähigung einzelner Individuen etwas Subjektives, was nicht mehr wünschenswert war. Die Priorität lag nun in dem wissenschaftlichen Austausch vieler Menschen und damit in der zunehmenden Standardisierung. Somit wuchs auch die Forderungen nach mehr und billigeren Arbeitskräften, die mit wenig Anleitung Experimente durchführen oder Beobachtungen anstellen konnten. Die hohe Anforderung, die Objektivität erforderte, konnte sonst nicht mehr erfüllt werden [16]. Da das Handwerksgeschick einer einzelnen Person an Relevanz verlor, wurde die Arbeit in der Wissenschaft geregelt wie das Arbeiten in einer Manufaktur: wie automatisiert und ohne der Voraussetzung besonderen Wissens. Diese Vorgehensweise war profitabel, weil sie günstig war: „Kurz, handwerkliches Geschick und Erfahrenheit war ein zu aristokratischer Zug für eine Demokratie wissenschaftlicher Beobachter, wo Demokratie mit toquevilleschen Assoziationen von Mittelmäßigkeit behaftet war“ [17]. Die Objektivität richtete sich an der Mitteilbarkeit von Erkenntnissen aus und diese setzte das Ideal einer vom Subjekt befreiten Perspektive voraus. Der Physiologe Claude Bernard betonte entsprechend, dass gerade ungebildete Kräfte sogar weniger voreingenommen seien als erfahrene Forscher*innen [18], doch laut Daston führte dies zunehmend zu einem Verlust an wichtigen Informationen, welche eigentlich zentraler Bestandteil in Beobachtungsprotokollen gewesen sind. Doch diese verlorenen Informationen waren „zu sehr an Person und Ort gebunden, um den strikten Anforderungen der aperspektivischen Objektivität zu genügen“ [19].
Fazit
Zusammenfassend lassen sich folgende Erkenntnisse über die aperspektivische Objektivität nach Daston festhalten: Erstens, es handelt sich lediglich um einen Teil des Oberbegriffs Objektivität, nämlich den Teil, der als objektive Haltung einfordert, sein Selbst und damit seine Eigenarten oder Standpunkte abzulegen. Zweitens, entwickelte sich dieser Aspekt des Begriffs nicht in den Naturwissenschaften, sondern in den Bereichen der Moralphilosophie und der Ästhetik. Drittens, wurde im 19. Jahrhundert die aperspektivische Objektivität auch in den Wissenschaften als Ideal aufgenommen. Jedoch zunächst nicht aus erkenntnistheoretischen Gründen, sondern aufgrund infrastruktureller Veränderungen und dem Entstehen einer „wissenschaftlichen Gemeinschaft“. Zuletzt wurde verdeutlicht, dass aperspektivische Objektivität ihre Kosten hat, nämlich einerseits den Verlust an anderen wissenschaftlichen Werten wie Erfahrenheit oder Geschick und andererseits einen hohen Arbeitsaufwand [20]. Schließlich lässt sich mit Daston jedoch Fragen, warum „allgemein zugängliches Wissen – Beobachtungen, die möglichst vielen Leuten möglichst leicht übermittelt und von ihnen reproduziert werden können – den metaphysischen Anspruch erheben [sollte], die größte Annäherung an die Wirklichkeit darzustellen?“ [21].
Belege
- ↑ Duden, Berlin: Dudenverlag (2022). In: Duden. Online, zuletzt abgerufen am 09.06.2022.
- ↑ Daston, Lorraine (2003): Wunder, Beweise und Tatsachen. Zur Geschichte der Rationalität. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch, S. 127.
- ↑ Daston, Lorraine (2003): Wunder, Beweise und Tatsachen. Zur Geschichte der Rationalität. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch, S. 129.
- ↑ Daston, Lorraine (2003): Wunder, Beweise und Tatsachen. Zur Geschichte der Rationalität. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch, S. 130.
- ↑ Daston, Lorraine (2003): Wunder, Beweise und Tatsachen. Zur Geschichte der Rationalität. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch, S. 129.
- ↑ Hume, David (1826): Of Standards of Taste. Edinburgh: Philosophical Works, S. 371.
- ↑ Daston, Lorraine (2003): Wunder, Beweise und Tatsachen. Zur Geschichte der Rationalität. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch, S. 136.
- ↑ Daston, Lorraine (2003): Wunder, Beweise und Tatsachen. Zur Geschichte der Rationalität. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch, S. 137.
- ↑ Smith, Adam (1976): The Theory of Moral Sentiments. Oxford: Oxford University Press, S. 135.
- ↑ Smith, Adam (1976): The Theory of Moral Sentiments. Oxford: Oxford University Press, S. 136.
- ↑ Daston, Lorraine (2003): Wunder, Beweise und Tatsachen. Zur Geschichte der Rationalität. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch, S. 141.
- ↑ Daston, Lorraine (2003): Wunder, Beweise und Tatsachen. Zur Geschichte der Rationalität. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch, S. 146.
- ↑ Renan, Ernest (1890): L'Avenir de la Science. Paris: , S. 91.
- ↑ Daston, Lorraine (2003): Wunder, Beweise und Tatsachen. Zur Geschichte der Rationalität. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch, S. 149.
- ↑ Daston, Lorraine (2003): Wunder, Beweise und Tatsachen. Zur Geschichte der Rationalität. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch, S. 145.
- ↑ Daston, Lorraine (2003): Wunder, Beweise und Tatsachen. Zur Geschichte der Rationalität. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch, S. 143-145.
- ↑ Daston, Lorraine (2003): Wunder, Beweise und Tatsachen. Zur Geschichte der Rationalität. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch, S. 146.
- ↑ Daston, Lorraine (2003): Wunder, Beweise und Tatsachen. Zur Geschichte der Rationalität. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch, S. 149.
- ↑ Daston, Lorraine (2003): Wunder, Beweise und Tatsachen. Zur Geschichte der Rationalität. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch, S. 147.
- ↑ Daston, Lorraine (2003): Wunder, Beweise und Tatsachen. Zur Geschichte der Rationalität. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch, S. 148.
- ↑ Daston, Lorraine (2003): Wunder, Beweise und Tatsachen. Zur Geschichte der Rationalität. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch, S. 148.
Autor*innen
Im Sommersemester 2024 haben Tuba Nur Ceviz, Zara Ceviz, Jasmin Engler, Melissa Görzen, Sarah Hagelstein, Hannah Kuhlmann, Tim Schade, Johannes Siebert, Felix Thielemann, Sarah Weinfurter und Christina Wiemers an dem Seminar "Die Sprache der Klimawandel: Klima und Campus" (Leitung: Felix Böhm) teilgenommen und damit das Projekt KLICK – Klimacampus Kassel samt seiner Teilprojekte gestaltet und durchgeführt. Auch an der Entstehung dieses Textes waren sie maßgeblich mitbeteiligt. Die Erstfassung dieses Artikels geht auf eine Vielzahl von Textbausteinen der Teilnehmenden zurück, die Felix Böhm zusammentrug und ergänzte. Die Versionsgeschichte gibt daher nicht die gesamte Entstehung des Artikels wieder und listet auch nicht alle beteiligten Autor*innen als User*innen.
Zitiervorlage: Böh, Felix et al. Werkstatt (2020). In: Böhm, Felix; Böhnert, Martin; Reszke, Paul (Hrsg.): Climate Thinking – Ein Living Handbook. Kassel: Universität Kassel. URL=https://wiki.climate-thinking.de/index.php?title=Benutzer:Hannah Tholen/Werkstatt, zuletzt abgerufen am 26.11.2024.