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− | In ''Staying with the Trouble: Making Kin in the Chthulucene'' kritisiert die Historikerin und Frauenforscherin Donna Haraway in Hinblick auf anthropozänes Erzählen die Vormachtstellung anthropozentrisch und anthropomorph ausgerichteter Erzählmuster: „Storying cannot any longer be put into the box of human exceptionalism.“<ref>Donna J. Haraway: ''Staying with the Trouble: Making Kin in the Chthulucene''. Durham, London 2016, S. 39.</ref> Auch die Anthropologin Anna Tsing fordert in diesem Zusammenhang: „The time has come for new ways of telling true stories beyond civilizational first principles. Without Man and Nature, all creatures can come back to life, and men and women can express themselves without the strictures of a parochially imagined rationality.“<ref>Anna Lowenhaupt Tsing: ''The Mushroom at the End of the World. On the Possibility of Life in Capitalist Ruins''. Princeton, Oxford 2015, S. vii.</ref> Als Grundproblem versteht Tsing also die Dichotomisierung von Menschen und Natur in vorherrschenden Erzählmustern, die Multiperspektivität und Artenvielfalt verdecke. Beide stützen sich hier auf die sogenannte Tragetaschentheorie von Fiktion, die die amerikanische Autorin Ursula K. Le Guin (1929–2018) in ihrem Essay ''The Carrier Bag Theory of Fiction'' aufstellt: Le Guin plädiert für die „life story“, die im ökofeministischen Sinne mehr Stimmen vereint als die geläufigere „killer story“, deren zentrale Bestandteile Aktion und ein singulärer, meist männlicher Held sind, der Macht ausübt; vielmehr müssten auch Erzählungen des Scheiterns und des Trauerns Gehör finden, wie dies bereits auch geschieht: „People have been telling the life story for ages, in all sorts of words and ways. Myths of creation and transformation, trickster stories, folktales, jokes, novels“ | + | In ''Staying with the Trouble: Making Kin in the Chthulucene'' kritisiert die Historikerin und Frauenforscherin Donna Haraway in Hinblick auf anthropozänes Erzählen die Vormachtstellung anthropozentrisch und anthropomorph ausgerichteter Erzählmuster: „Storying cannot any longer be put into the box of human exceptionalism.“<ref>Donna J. Haraway: ''Staying with the Trouble: Making Kin in the Chthulucene''. Durham, London 2016, S. 39.</ref> Auch die Anthropologin Anna Tsing fordert in diesem Zusammenhang: „The time has come for new ways of telling true stories beyond civilizational first principles. Without Man and Nature, all creatures can come back to life, and men and women can express themselves without the strictures of a parochially imagined rationality.“<ref>Anna Lowenhaupt Tsing: ''The Mushroom at the End of the World. On the Possibility of Life in Capitalist Ruins''. Princeton, Oxford 2015, S. vii.</ref> Als Grundproblem versteht Tsing also die Dichotomisierung von Menschen und Natur in vorherrschenden Erzählmustern, die Multiperspektivität und Artenvielfalt verdecke. Beide stützen sich hier auf die sogenannte Tragetaschentheorie von Fiktion, die die amerikanische Autorin Ursula K. Le Guin (1929–2018) in ihrem Essay ''The Carrier Bag Theory of Fiction'' aufstellt: Le Guin plädiert für die „life story“, die im ökofeministischen Sinne mehr Stimmen vereint als die geläufigere „killer story“, deren zentrale Bestandteile Aktion und ein singulärer, meist männlicher Held sind, der Macht ausübt; vielmehr müssten auch Erzählungen des Scheiterns und des Trauerns Gehör finden, wie dies bereits auch geschieht: „People have been telling the life story for ages, in all sorts of words and ways. Myths of creation and transformation, trickster stories, folktales, jokes, novels“<ref>Ursula K. Le Guin: The Carrier Bag Theory of Fiction. In: Denise Du Pont (Hrsg.): ''Women of Vision. Essays by women writing science fiction''. New York 1988, S. 165–170, hier 168.</ref>. |
Version vom 19. November 2024, 15:24 Uhr
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Narrative, Themen und Motive anthropozänen Erzählens
„Erzählen von Geschichten ist, ähnlich wie Spiel und Gesang, ein elementares Bedürfnis“[1], schreibt die Folkloristin Linda Dégh in der Enzyklopädie des Märchens. Folglich wird auch die menschengemachte Klimakatastrophe zum Inhalt kultureller Verarbeitung in verschiedenen medialen Formen wie Literatur, Film und Spiel. Um das Erzählen über die Klimakatastrophe zu systematisieren und zu verstehen, gilt es, Narrative, Themen und Motive solchen künstlerischen Schaffens herauszuarbeiten. Eine klare Trennung dieser Kategorien ist kaum möglich – der Versuch dient jedoch einem feinmaschigen Überblick von den Strukturen anthropozänen Erzählens. Dieser Artikel ist Forschungsaufschlag und erste Annäherung an ein Feld, das international verschiedene Ausprägungen kennt und kaum in Gänze erfasst werden kann. Gattungen und Genres finden nur am Rande Erwähnung, da an anderer Stelle ausgeführt – auch hier ist eine strikte Loslösung allerdings nicht möglich.
Narrative meint die Summe „aller kulturellen Manifestationen, die als ,Erzählen‘ identifiziert werden können.“[2] Die Literaturwissenschaftlerin Gabriele Dürbeck identifiziert fünf Narrative, die das Anthropozän erzählen: (1) das Katastrophennarrativ, das die Apokalypse schildert und den Menschen sowohl als Opfer als auch als Täter inszeniert, (2) das Gerichtsnarrativ, das strukturell einem Kriminalfall gleicht, (3) das Narrativ von der großen Transformation, das Lösungsansätze aus der Katastrophe erzählt, (4) das (bio-)technologische Narrativ, das neue Technologien als Wege aus der Krise imaginiert, und (5) das Interdependenz-Narrativ, in dem die Menschen als Teil eines sensiblen Ökosystems verstanden werden und die Dichotomisierung von Menschen und Natur aufgehoben wird.[3]
Ein Thema ist allgemein „die für einen Text oder Textabschnitt zentrale Problemkonstellation bzw. der Leitgedanke.“[4] In ihrer Einleitung zu Anthropozäne Literatur: Poetiken – Genres – Lektüren machen Simon Probst, Gabriele Dürbeck und Christoph Schaub zentrale Themenkomplexe im Erzählen über die Klimakatastrophe ausfindig, und zwar:
„Tiefenzeit (inkl. tiefe Zukunft); Atomkatastrophe; Biodiversitätsverlust und Massensterben; Erderwärmung und Auswirkungen des Klimawandels; climate engineering und geoengineering; fossile Kulturen, Müll, Plastik und petrofossile Infrastrukturen und Extraktivismus; Mega-Cities; Überbevölkerung; Kritik an Hightech-Landwirtschaft; Einsatz von chemischem Dünger und Umweltgiften und Gen-Technologien; „slow violence“ [...] von ökologischer Kolonialisierung und Globalisierung; artenübergreifende Umweltgerechtigkeit.“[5]
Als Motiv schließlich gilt die „kleinste bedeutungsvolle Einheit eines lit[erarischen] Textes“[6] In Letzte Menschen: Postapokalyptische Narrative und Identitäten in der Neueren Literatur nach 1945 nennt Judith Schossböck vier übergeordnete Motive im anthropozänen Erzählen: (1) letzte Orte, speziell die Verhandlung von Räumen und Mobilität in der Postapokalypse, (2) letzte Menschen und die Konstitution von Identität in der Katastrophe, (3) letzte Worte als Konzepte gegen eine drohende Spurlosigkeit und (4) letzte Welten, die Naturkulissen und Weltenübergänge auserzählen.[7] Beispielsweise legt der Roman Die Wand (1963) der österreichischen Schriftstellerin Marlen Haushofer (1920–1970) einen starken Fokus auf den Wald als letzten Ort: Die Protagonistin wird im Wald von einer unsichtbaren Wand von der Außenwelt abgetrennt ist und muss in der Isolation eine vorsichtig angedeutete globale Katastrophe ertragen. Gleichzeitig wird in dieser Postapokalypse reflektiert, was das Menschsein in völliger Einsamkeit ausmacht. Gerade „[g]egen den Verlust ihrer Reflexionsfähigkeit“[8] schreibt die Ich-Erzählerin mit letzten Worten an und betont explizit die Praxis ihres Schreibens. Die Schilderung dieser letzten Welt, einer isolierten Naturkulisse, ist nicht nur Setting, sondern löst Emotionen aus, die „Erzählerin empfindet, dass sie als einziges Lebewesen nicht in den Wald passt.“[9]
Erzählmuster
In Staying with the Trouble: Making Kin in the Chthulucene kritisiert die Historikerin und Frauenforscherin Donna Haraway in Hinblick auf anthropozänes Erzählen die Vormachtstellung anthropozentrisch und anthropomorph ausgerichteter Erzählmuster: „Storying cannot any longer be put into the box of human exceptionalism.“[10] Auch die Anthropologin Anna Tsing fordert in diesem Zusammenhang: „The time has come for new ways of telling true stories beyond civilizational first principles. Without Man and Nature, all creatures can come back to life, and men and women can express themselves without the strictures of a parochially imagined rationality.“[11] Als Grundproblem versteht Tsing also die Dichotomisierung von Menschen und Natur in vorherrschenden Erzählmustern, die Multiperspektivität und Artenvielfalt verdecke. Beide stützen sich hier auf die sogenannte Tragetaschentheorie von Fiktion, die die amerikanische Autorin Ursula K. Le Guin (1929–2018) in ihrem Essay The Carrier Bag Theory of Fiction aufstellt: Le Guin plädiert für die „life story“, die im ökofeministischen Sinne mehr Stimmen vereint als die geläufigere „killer story“, deren zentrale Bestandteile Aktion und ein singulärer, meist männlicher Held sind, der Macht ausübt; vielmehr müssten auch Erzählungen des Scheiterns und des Trauerns Gehör finden, wie dies bereits auch geschieht: „People have been telling the life story for ages, in all sorts of words and ways. Myths of creation and transformation, trickster stories, folktales, jokes, novels“[12].
- ↑ Linda Dégh: Erzählen, Erzähler. In: Kurt Ranke u. a. (Hrsg.): Enzyklopädie des Märchens. Handwörterbuch zur historischen und vergleichenden Erzählforschung. Bd. 4, Berlin, New York 1984, Sp. 315–342, hier Sp. 315.
- ↑ Christoph Fasbender: Narratologie. In: Dieter Burdorf u. a. (Hrsg.): Metzler Lexikon Literatur. Stuttgart 2007, S. 529f., hier S. 529.
- ↑ Vgl. Gabriele Dürbeck: Das Anthropozän Erzählen: fünf Narrative. In: bpp: Bundeszentrale für politische Bildung (Hrsg.): APuz – Aus Politik und Zeitgeschichte. Unter: https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/269298/das-anthropozaen-erzaehlen-fuenf-narrative/ [letzter Abruf: 30.10.2024].
- ↑ Sabine Doering: Thema. In: Dieter Burdorf u. a. (Hrsg.): Metzler Lexikon Literatur. Stuttgart 2007, S. 768.
- ↑ Simon Probst, Gabriele Dürbeck und Christoph Schaub: Was heißt es, von ,anthropozäner Literatur‘ zu sprechen? Einleitung. In: Gabriele Dürbeck u. a. (Hrsg.): Anthropozäne Literatur: Poetiken – Genres – Lektüren. Berlin 2022, S. 1–24, hier S. 18f.
- ↑ Sabine Doering: Motiv. In: Dieter Burdorf u. a. (Hrsg.): Metzler Lexikon Literatur. Stuttgart 2007, S. 514.
- ↑ Vgl. Judith Schossböck: Letzte Menschen: Postapokalyptische Narrative und Identitäten in der Neueren Literatur nach 1945. Bochum, Freiburg 2012, S. 103–158.
- ↑ Ebd., S. 143.
- ↑ Ebd., S. 151.
- ↑ Donna J. Haraway: Staying with the Trouble: Making Kin in the Chthulucene. Durham, London 2016, S. 39.
- ↑ Anna Lowenhaupt Tsing: The Mushroom at the End of the World. On the Possibility of Life in Capitalist Ruins. Princeton, Oxford 2015, S. vii.
- ↑ Ursula K. Le Guin: The Carrier Bag Theory of Fiction. In: Denise Du Pont (Hrsg.): Women of Vision. Essays by women writing science fiction. New York 1988, S. 165–170, hier 168.