Objektivität: Unterschied zwischen den Versionen

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Der Begriff der '''Objektivität''' hat für die empirische Forschung eine andere Bedeutung als in unserem Alltag. Aus Perspektive des [[Über Klimawandel nachdenken|Nachdenkens über den Klimawandel]] soll der Begriff daher aus einer wissenschaftsphilosophisch reflektiert und dadurch differenzierter betrachtet werden. Besonderes Augenmerk liegt dabei auf dem Status von Befunden der Naturwissenschaften, da diese innerhalb des Klimadiskurs oft als objektive Quellen angeführt werden.
 
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==Alltagsverständnis==
 
Im Wörterbuch der Deutschen Sprache steht unter Objektivität: „Adäquatheit der Widerspiegelung der objektiven Realität, Sachlichkeit im Untersuchen, Darstellen, Urteilen“.<ref>„Objektivität“, bereitgestellt durch das Digitale Wörterbuch der deutschen Sprache, (https://www.dwds.de/wb/Objektivit%C3%A4t), abgerufen am 18.09.2020</ref>
 
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Das Alltagsverständnis von Objektivität oder der Ausdruck „etwas objektiv betrachten“ beschreibt einen neutralen Standpunkt, der die eigene Wertung außen vorlässt. Eine objektive Aussage soll möglichst losgelöst vom Subjekt sein. Synonym werden oft Begriff wie "Sachlichkeit“ oder "Neutralität“ genutzt. Weiterhin besteht eine Assoziation zu wissenschaftlichen, faktisch richtigen Aussagen. Bei diesem kurzen Definitionsversuch zeigt sich bereits, dass der Objektivitätsbegriff vielschichtig ist und sowohl für die Beschreibung von Haltungen als auch von Methoden oder Umstände genutzt wird. Objektivität wird so auch im Klimadiskurs weitestgehend als eine feste, universelle Kategorie verstanden – die eine Objektivität. Für die differenzierte Betrachtung des Begriffs soll diese Alltagsverwendung wissenschaftsphilosophisch reflektiert werden.
 
 
==Empirische Forschung==
 
Objektivität wird insbesondere in den Naturwissenschaften als Maßstab angesehen und gilt als Grund dafür, wissenschaftliche Befunde auch innerhalb des öffentlichen Diskurses zu schätzen und auf sie zu vertrauen. „Objectivity is often considered as […] the basis of the authority of science in society“.<ref>Reiss, Julian and Jan Sprenger, "Scientific Objectivity", The Stanford Encyclopedia of Philosophy (Winter 2017 Edition), Edward N. Zalta (ed.), (https://plato.stanford.edu/archives/win2017/entries/scientific-objectivity/) abgerufen am 18.09.2020 </ref>
 
 
Für die empirische Forschung gilt Objektivität – neben Reliabilität und Validität – als ein Gütekriterium. Ziel von empirischer Forschung ist es Aussagen und Theorien über den jeweiligen Untersuchungsgegenstand zu ermöglichen. Die Forschungsergebnisse genügen dem wissenschaftlichen Standard nur dann, wenn sie objektiv und damit überprüfbar sind. In diesem Kontext bedeutet objektiv, dass die Forschung unabhängig von den Forschenden ist und verschiedene Personen zu dem gleichen Ergebnis kämen. Es ist aber durchaus kritisch zu sehen, dass automatisch davon ausgegangen wird, das wissenschaftlich Ergebnisse objektiv sind, da nicht jede wissenschaftliche Forschung dieses Kriterium erfüllt.
 
 
==Objektivität nach Lorraine Daston==
 
 
Für unsere Nutzung des Objektivitätsbegriffs innerhalb des Projekts [[Climate Thinking]], betrachten wir Objektivität nach Lorraine Daston.
 
Lorraine Daston (*09.06.1951) ist Wissenschaftshistorikerin und war bis 2019 Direktorin am Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte in Berlin<ref>Max-Planck-Institut: https://www.mpiwg-berlin.mpg.de/users/ldaston abgerufen am 18.09.2020</ref>. Zusammen mit Peter Galison hat sie der Objektivität ein ganzes Buch gewidmet - Objektivität. In dem Buch erläutern sie die wissenschaftliche Ausprägung der Objektivität und zeichnen ihren historischen Wandel nach. Daston ordnet die Objektivität den epistemischen Tugenden zu. Dazu gehören auch die Naturwahrheit und das geschulte Urteil.<ref>Daston, Lorraine; Galison, Peter: Objektivität. Frankfurt am Main, 2007 1. Auflage (S. 13) </ref> Epistemische Tugenden sind ein von Daston begründeter Begriff. Sie umfassen implizite und explizite Ethiken, an denen sich wissenschaftliche Akteure mit ihren Arbeitsweisen orientieren.<ref>Brandstetter, Thomas: Wissenschaftsgeschichte. In: Maasen, Sabine et.al.: Handbuch Wissenschaftssoziologie. Wiesbaden 2012, S.247.</ref>
 
 
Die epistemischen Tugenden bauen nicht aufeinander auf und schließen einander nicht aus, sondern sind koexistent. Dabei sind sie immer veränderlich und wirken sich auch auf die wissenschaftliche Praxis aus. Die wissenschaftliche Praxis ist außerdem immer mit der Persönlichkeit der Forschenden verbunden und prägt ihr wissenschaftliches Selbst.
 
 
Daston grenzt unterschiedlichen Arten der Objektivität voneinander ab. Die Objektivität, die für die wissenschaftliche Forschung am relevantesten ist, bezeichnet sie als mechanische Objektivität. Unsere Objektivitätsverständnis im Alltag wird von der aperspektivischen Objektivität dominiert. Darunter versteht Daston eine Methode des Verstehens, die individuelle Eigenarten möglichst eliminieren soll.Weiterhin betrachtet Daston die Unabhängigkeit der Forschung von den Forschenden kritisch, da laut ihr Wissen immer abhängig vom Besitzenden ist und somit nicht objektiv sein kann.
 
 
==Historischer Wandel==
 
 
In ihrem Buch Objektivität verdeutlicht Lorraine Daston die Entstehung und den historischen Wandel der mechanischen Objektivität. Ähnlich wie [[Ludwik Fleck]] geht Daston von einem wissenschaftlichen Kollektiv aus.<ref>Daston, Lorraine; Galison, Peter: Objektivität. Frankfurt am Main, 2007 1. Auflage (S.8)</ref> Innerhalb dieses Kollektivs müssen epistemologische und ethische Sehweisen erst erworben werden. Besonders Abbildungen und deren Verbreitungen ermöglichen kollektive empirische Forschung. Deshalb haben Daston und Galison sich bei der Betrachtung der Historik der Objektivität auf Atlanten und ihre Abbildungen konzentriert.  Die Kernfrage bei ihren Betrachtungen ist es, wie die richtige Abbildung von wissenschaftlichen Arbeitsobjekten den wissenschaftlichen Blick mit dem wissenschaftlichen Selbst verbindet.<ref>Daston, Lorraine; Galison, Peter: Objektivität. Frankfurt am Main, 2007 1. Auflage (S.53)</ref> Historische betrachtet war Wissenschaft nicht immer durch Objektivität definiert. Die wissenschaftliche Objektivität hat erst im Laufe des 19. Jahrhunderts neue Richtlinien geschaffen. Betrachtet man die epistemischen Tugenden in ihrer historischen Abfolge, so war vor der mechanischen Objektivität die Naturwahrheit das Maß der Dinge und ab dem 20. Jahrhundert ergänzt das geschulte Urteil die Objektivität. Daran zeigt sich, dass die epistemischen Tugenden zeitgebunden sind und zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmen Ort eine bestimmte Art von Wissenschaft ermöglichen.<ref>Daston, Lorraine; Galison, Peter: Objektivität. Frankfurt am Main, 2007 1. Auflage (S.73)</ref> Sie entwickeln sich durch ihren historischen Kontext.
 
 
===Naturwahrheit im 18. Jahrhundert===
 
 
Die im 18. Jahrhundert geforderte Naturwahrheit strebt nach Perfektion. Die Forschenden sind der Auffassung das Abbildungen die Essenz der Natur und Forschung realitätsgetreuer wiedergeben können als Schrift und Sprache. Sie sind für den Betrachter eindeutiger und unmittelbarer. Es wird ein künstlerisches Genie gefordert, dass die perfekte Darstellung schafft. Ziel ist es Allgemeinheiten zu finden und typenhafte Darstellungen zu schaffen. Die künstlerische Leistung steht noch nicht im Widerspruch zur wahrhaften, exakten Darstellung.
 
 
===Mechanische Objektivität im 19. Jahrhundert===
 
 
Im 19. Jahrhundert hat dann die mechanische Objektivität ihre Blütezeit. Sie wird als ein Weg zum Klarsehen aufgefasst. Die Parole der neuen wissenschaftlichen Objektivität lautet die Natur soll für sich selbst sprechen. Schätzen die Atlasmacher im 18. Jahrhundert noch die idealisierende Intervention als Tugend, so ist sie jetzt verpönt. Das Verständnis der Wissenschaft wird nun höher geschätzt und gewichtet als das künstlerische Genie.
 
 
Zu diesem Zeitpunkt kommt auch die Ethik des wissenschaftlichen Selbst zum Tragen. Von den Forschenden wird ab jetzt gefordert sich selbst zu beherrschen und nicht der Natur ihre Ideen aufzuzwingen. Die mechanische Objektivität fordert also einen bestimmen Typ Wissenschaftler, der bis heute aber nie vollkommen verwirklicht wurde. Das Ziel ist es Bilder herzustellen, die möglichst frei von menschlichem Einfluss sind und Reproduktionen individueller Exemplare anzufertigen. Vor allem photographische Techniken sind eine Kontrollinstanz für die Subjektivität. Der innere  Kampf um Kontrolle über den Willen verlieh der mechanischen Objektivität einen gehobenen moralische Ton. Die Objektivität verlangt, dass das wissenschaftliche Selbst sich in einen aktiven Experimentator und passiven Beobachter aufspaltet.
 
 
Im Vergleich zu den künstlerisch präzisen Abbildungen der Naturwahrheit, die repräsentativ für einen Typus waren, werden die Objekte jetzt spezifisch und individuell dargestellt. Nicht-perfekte Abbildungen gelten als ein Zeichen für Objektivität.  Erst die Möglichkeit, die eigenen Perspektive durch die technischen Methoden, wie z.B. Fotografie, zu verlassen, bringt die Forderung in der Wissenschaft die eigenen Perspektive auszuschließen. Das Aufkommen der Objektivität war aber keineswegs zwangsläufig. Die Naturwahrheit war und ist eine brauchbare Alternative. Vor allem in der Botanik ist sie bis heute noch ein geschätztes Ideal. Die Objektivität wurde nicht, wie man annehmen könnte, von den technischen Neuerungen geschaffen. Die historischen Revolutionen trugen zu ihrem Aufkommen bei. Dennoch ist die mechanische Objektivität nicht immer das richtige Mittel der Wahl denn Genauigkeit, Vollständigkeit, Farbe, Bildschärfe und Reproduzierbarkeit fallen ihr oft zum Opfer.
 
 
===Geschulte Urteile im 20. Jahrhundert===
 
 
Um die Wende zum 20. Jahrhundert schwand der Glaube an die mechanische Objektivität. Das Bestreben ein objektives Bild mechanisch herzustellen, wurde durch eine Strategie ergänzt, die bestätigte, dass für die Herstellung und Nutzung interpretierender Abbildungen geschultes Urteil nötig war. Ziel der wissenschaftlichen Sehweise ist nun ein vom Urteil gesteuerter Blick mit erfahrenen und geübten Augen. Dazu kommt eine andere Gestaltung des wissenschaftlichen Selbst. Es gibt keinen Kampf mehr gegen sich selbst, denn Selbstverleugnung und Passivität waren freiwillige Opfer der mechanischen Objektivität. Weiterhin war eine große wissenschaftliche Leistung nicht mehr eine Frage von Geduld und Fleiß und auch keine reine Gabe, intuitives Denken wurde gefordert. Daston konstatiert, dass das Schaffen wissenschaftlicher Bilder auch Teil der wissenschaftlichen Selbst-Erschaffung ist.
 
Anfang des 20. Jahrhunderts formt sich also ein neues wissenschaftliches Selbst. Eine geschulte fachkundige Einschätzung wird zur Basis dieses wissenschaftlichen Selbst. Das geschulte Urteil wird zur notwendigen Ergänzung aller Bilder die Maschinen herstellen konnten. Aber auch der wissenschaftliche Leser wird in die Verantwortung gezogen die Abbildungen zu verstehen. Wie Richard Oosterhoff in seiner Rezension zu dem Buch feststellt, zeigt die Analyse des historischen Wandels das Objektivität ironischerweise nicht ohne Subjektivität funktioniert, nur muss diese sehr diszipliniert eingesetzt werden.<ref>Daston, Lorraine & Galison, Peter & Oosterhoff, Richard. Objectivity. American Journal of Physics. 2011 https://www.researchgate.net/publication/258487677_Objectivity abgerufen am 18.09.2020</ref>
 
 
Wissenschaftliche Objektivität hat nie versucht das Selbst oder die Subjektivität vollständig auszulöschen. Schließlich müssen wissenschaftliche Ergebnisse und Daten immer interpretiert und ausgewertet werden. So kam es das immer mehr Forschende eine interpretierende Sichtweise dem Blindsehen der mechanischen Objektivität bevorzugten. Wenn es zu einer Konfrontation epistemischer Tugenden kommt, kann es auch zu einer Konfrontation zweier wissenschaftlicher Selbstbilder kommen. Die wissenschaftliche Ethik ist immer vom Kollektiv geprägt, auch historisch gesehen.
 
Entgegen der allgemeinen Auffassung ist die Gleichsetzung von Wahrheit und Objektivität unpräzise und es ist wie Daston herausstellt nicht immer möglich gleichzeitig der Wahrheit und der Objektivität zu dienen. Weiterhin hat es immer auch eine Wissenschaft ohne Objektivität gegeben und wird es weiterhin geben.<ref>Daston, Lorraine; Galison, Peter: Objektivität. Frankfurt am Main, 2007 1. Auflage (S.394)</ref>
 
 
Objektivität ist nur eine von mehreren epistemischen Tugenden und nicht die Grundlage der Erkenntnistheorie.
 
 
==Der differenzierte Objektivitätsbegriff im Klimadiskurs==
 
 
Einen differenzierten Objektivitätsbegriff im Klimadiskurs zu nutzen bedeutet zu bedenken, dass es immer vom Kontext abhängig ist, was überhaupt mit objektiv gemeint ist. Auch wissenschaftliche, objektiv erreichte Ergebnisse können zu unterschiedlichen Aussagen über den Klimawandel führen. Dies macht es verständlicher, warum es ebenso Zweifel am Klimawandel gibt. Weiterhin entstehen auch die Erkenntnisse über den Klimawandel in einem historischen Kontext und gelten nicht überzeitlich. Das heißt Befunde können sich ändern – wie z.B. an der Veränderung des 2 Grad Ziels auf das 1,5 Grad Ziel zu sehen ist.
 
 
Der Klimadiskurs ist aber geprägt von der Suche nach Handlungsanweisungen. Die Erwartung ist oft diese direkt aus den wissenschaftlichen Ergebnissen ablesen zu können. Dies ist aber nicht einfach so möglich, da der Klimawandel ein komplexes Thema ist. Ein differenzierter Objektivitätsbegriff kann dazu beitragen dieser Komplexität gerechter zu werden, da er unser Bewusstsein dafür schärfen kann, wie wissenschaftliche Erkenntnisse zu beurteilen sind.
 
 
== Einzelnachweise ==
 

Version vom 9. Februar 2021, 01:54 Uhr