Benutzer: Martin Böhnert/Werkstatt: Unterschied zwischen den Versionen

Aus wiki.climate-thinking.de
Wechseln zu: Navigation, Suche
Zeile 2: Zeile 2:
  
 
----
 
----
„Our belief that science alone could deliver us from the planetary quagmire is long dead.“[1] (Sinngemäß übersetzt: Unser Glaube, dass uns die Naturwissenschaft allein aus dem planetarischen Schlamassel erlösen könnte, ist schon lange tot.) Dieses Zitat des schwedischen Umwelt- und Wissenschaftshistorikers Sverker Sörlin diente dem Forschungs- und Lehrschwerpunkt Climate Thinking als eine Art Ausgangspunkt, Prämisse oder vielleicht besser, als ein Denkanstoß. Der kurze Satz verweist auf verschiedene Grundannahmen, die Sörlin in gerade einmal 15 Worten verbindet, um einen Ist-Zustand zu beschreiben: Hinter einem kollektiven „our“ versammelt sich eine in großer Gefahr befindliche Gemeinschaft, bei der über lange Zeit ein Glaube an eine superheroisch überzeichnete Instanz kursierte, welche „us“ – wenn nicht vom Bösen, so doch vom planetarischen Schlamassel – erlösen könne. Selbstverständlich geht es Sörlin um die Lage der Menschheit im Angesicht der Klimakrise. Aber, so Sörlins nüchterner Befund, selbst wenn Gott respektive die Naturwissenschaft nicht tot ist, so ist es doch der Erlösungsglaube an sie als alleinige Heilsbringer.
+
„Our belief that science alone could deliver us from the planetary quagmire is long dead.“<ref>{{Quellen-Literatur|Autor*in=Sörlin, Sverker |Titel=Environmental Humanities. Why Should Biologists Interested in the Environment Take the Humanities Seriously? |Zeitschrift=BioScience |Band=62 |Nummer=9 |Jahr=2012 |Seite=788-789, hier S. 788 }}</ref> Dieses Zitat des schwedischen Umwelt- und Wissenschaftshistorikers [[Sverker Sörlin]] diente dem Forschungs- und Lehrschwerpunkt [[Climate Thinking]] als eine Art Ausgangspunkt, Prämisse oder vielleicht besser, als ein Denkanstoß. Der kurze Satz verweist auf verschiedene Grundannahmen, die Sörlin in gerade einmal 15 Worten verbindet, um einen Ist-Zustand zu beschreiben: Hinter einem kollektiven „our“ versammelt sich eine in großer Gefahr befindliche Gemeinschaft, bei der über lange Zeit ein Glaube an eine superheroisch überzeichnete Instanz kursierte, welche „us“ – wenn nicht vom Bösen, so doch vom planetarischen Schlamassel – erlösen könne. Selbstverständlich geht es Sörlin um die Lage der Menschheit im Angesicht der Klimakrise. Aber, so Sörlins nüchterner Befund, selbst wenn Gott respektive die Naturwissenschaft nicht tot ist, so ist es doch der Erlösungsglaube an sie als alleinige Heilsbringer.
Ausgehend von dieser Überlegung fragt der 2020 am Fachbereich für Geistes- und Kulturwissenschaften der Universität Kassel gegründete Schwerpunkt Climate Thinking mit einer kritischen Haltung danach, was eben diese Wissenschaften im Diskurs um die Klimakrise beitragen können. Dabei wird die auch in Sörlins skizziertem Erlösungsglauben mitgedachte, landläufige Überzeugung adressiert, dass die Veränderung des Klimas als ein Umweltproblem und damit als Teil der Natur ausschließlich in den exploratorischen und explanatorischen Zuständigkeitsbereich der Naturwissenschaften falle.[2] Dementsprechend bestimmen diese den Gegenstandsbereich, erforschen die Probleme und schlagen Lösungen vor, die dann üblicherweise technischer Art sind. Eine solche Grundüberzeugung skizziert in ihrer stärksten Überzeichnung ein positivistisches Natur- und Weltbild, so wie es etwa in dem Motto „Zu Fakten gibt es keine Alternative!“ zum Ausdruck kommt, unter dem sich 2017 beim ersten March for Science weltweit Menschen zusammentaten, um der wachsenden – überwiegend populistischen und nicht erkenntnistheoretischen – Skepsis gegenüber wissenschaftlichen Forschungsergebnissen entgegenzutreten.[3] Ein solcher Ruf nach (mehr) Naturwissenschaft hat jedoch auch zur Folge, dass die Klimakrise in einer naturwissenschaftlichen Sprache physikalischer Kausalitäten als abstraktes, biophysisches, entkontextualisiertes und de-politisiertes Ereignis erfahren wird.[4]
+
 
Es sollte nicht überraschen, dass – frei nach Edmund Husserl – bloße Tatsachenwissenschaften bloße Tatsachenphänomene imaginieren.[5] Ein auf diese Weise gefasster Begriff der Klimakrise – noch einmal frei nach Husserl – ist dann jedoch bloß ein „Restbegriff“,[6] der nicht berücksichtigen kann, dass die Wissenschaften selbst und auch das von ihnen erforschte Phänomen in komplexen gesellschaftlichen, kulturellen, politischen, ökologischen, technischen, ideengeschichtlichen etc. Zusammenhängen eingebunden sind. Bruno Latour stellt diesem Restbegriff der naturwissenschaftlichen Matters of Fact den Begriff der Matters of Concern entgegen. Dieser Begriff soll die Klimakrise – aber auch andere naturwissenschaftliche Tatsachen von der Doppelhelixstruktur der DNA bis zu unserem Wissen über Dinosaurier – nicht bloß als faktenhaft isolierbares Ding erfassen, auf das verwiesen und über das referiert werden kann. Als Matter of Concern ist die Klimakrise eine Versammlung oder Zusammenkunft („Gathering“) von Ideen, Mächten, Akteur*innen, Praktiken und Schauplätzen, die entsteht und sich entwickelt, indem sie einem eine Angelegenheit ist, man sich um sie kümmert, sich um sie sorgt und besorgt ist.[7]
+
Ausgehend von dieser Überlegung fragt der 2020 am Fachbereich für Geistes- und Kulturwissenschaften der Universität Kassel gegründete Schwerpunkt Climate Thinking mit einer kritischen Haltung danach, was eben diese Wissenschaften im Diskurs um die Klimakrise beitragen können. Dabei wird die auch in Sörlins skizziertem Erlösungsglauben mitgedachte, landläufige Überzeugung adressiert, dass die Veränderung des Klimas als ein Umweltproblem und damit als Teil der Natur ausschließlich in den exploratorischen und explanatorischen Zuständigkeitsbereich der Naturwissenschaften falle.<ref>Vgl. hierzu die Überlegungen in{{Quellen-Literatur|Autor*in=Elliott, Alexander; Damodaran, Vinita; Cullis, James |Titel=Introduction |Herausgeber*in=Elliott, Alexander; Cullis, James; Damodaran, Vinita |Sammelband=Climate Change and the Humanitis. Historical, Philosophical and Interdisciplinary Approaches to the Contemporary Environmental Crisis |Ort=London |Verlag=Crisis |Jahr=2017 |Seite=1-11 }} Sowie {{Quellen-Literatur|Autor*in=Mutschler, Hans-Dieter |Titel=Naturphilosophie |Ort=Stuttgart |Verlag=W. Kohlhammer |Jahr=2002 |Seite=8 }}</ref> Dementsprechend bestimmen diese den Gegenstandsbereich, erforschen die Probleme und schlagen Lösungen vor, die dann üblicherweise technischer Art sind. Eine solche Grundüberzeugung skizziert in ihrer stärksten Überzeichnung ein positivistisches Natur- und Weltbild, so wie es etwa in dem Motto „Zu Fakten gibt es keine Alternative!“ zum Ausdruck kommt, unter dem sich 2017 beim ersten March for Science weltweit Menschen zusammentaten, um der wachsenden – überwiegend populistischen und nicht erkenntnistheoretischen – Skepsis gegenüber wissenschaftlichen Forschungsergebnissen entgegenzutreten.<ref>{{Quellen-Zeitung|Autor*in=Zinkant, Kathrin |Titel=Sciences Marches – Zu Fakten gibt es keine Alternative |Zeitung=Süddeutsche Zeitung |Datum=23. April 2017 |Seite= |Online=https://www.sueddeutsche.de/wissen/science-marches-zu-fakten-gibt-es-keine-alternative-1.3474915 |Abruf=17.02.2022 }}</ref> Ein solcher Ruf nach (mehr) Naturwissenschaft hat jedoch auch zur Folge, dass die Klimakrise in einer naturwissenschaftlichen Sprache physikalischer Kausalitäten als abstraktes, biophysisches, entkontextualisiertes und de-politisiertes Ereignis erfahren wird.<ref>Vgl. {{Quellen-Literatur|Autor*in=Bravo, Michael T. |Titel=Voices From the Sea Ice: the Reception of Climate Impact Narratives |Zeitschrift=Journal of Historical Geography |Band=35 |Nummer=2 |Jahr=2009 |Seite=256-278, hier S. 259 |Online=https://doi.org/10.1016/j.jhg.2008.09.007 |Abruf=17.02.2022 }}</ref>
 +
 
 +
Es sollte nicht überraschen, dass – frei nach Edmund Husserl – bloße Tatsachenwissenschaften bloße Tatsachenphänomene imaginieren.<ref>Bei Husserl lautet es: „Bloße Tatsachenwissenschaften machen bloße Tatsachenmenschen.“ {{Quellen-Literatur|Autor*in=Husserl, Edmund |Titel=ie Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie |Ort=Hamburg |Verlag= Meiner |Jahr=1937/2012 |Seite=6 }}</ref> Ein auf diese Weise gefasster Begriff der Klimakrise – noch einmal frei nach Husserl – ist dann jedoch bloß ein „Restbegriff“,<ref>{{Quellen-Literatur|Autor*in=Husserl, Edmund |Titel=ie Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie |Ort=Hamburg |Verlag= Meiner |Jahr=1937/2012 |Seite=9 }}</ref> der nicht berücksichtigen kann, dass die Wissenschaften selbst und auch das von ihnen erforschte Phänomen in komplexen gesellschaftlichen, kulturellen, politischen, ökologischen, technischen, ideengeschichtlichen etc. Zusammenhängen eingebunden sind. Bruno Latour stellt diesem Restbegriff der naturwissenschaftlichen Matters of Fact den Begriff der Matters of Concern entgegen. Dieser Begriff soll die Klimakrise – aber auch andere naturwissenschaftliche Tatsachen von der Doppelhelixstruktur der DNA bis zu unserem Wissen über Dinosaurier – nicht bloß als faktenhaft isolierbares Ding erfassen, auf das verwiesen und über das referiert werden kann. Als Matter of Concern ist die Klimakrise eine Versammlung oder Zusammenkunft („Gathering“) von Ideen, Mächten, Akteur*innen, Praktiken und Schauplätzen, die entsteht und sich entwickelt, indem sie einem eine Angelegenheit ist, man sich um sie kümmert, sich um sie sorgt und besorgt ist.<ref>Vgl. {{Quellen-Literatur|Autor*in=Latour, Bruno |Titel=Why Has Critique Run Out of Steam? From Matters of Fact to Matters of Concern |Zeitschrift=Critical Inquiry |Band=30 |Nummer=2 |Jahr=2004 |Seite=225-248, hier S. 231-237 |Online= |Abruf=17.02.2022 }} Latour verweist an dieser Stelle auch mit Bezugnahme auf Martin Heidegger auf die Etymologie des Wortes „Ding“, welches im mittelhochdeutschen „thing“ gleichzeitig eine Sache, ein Objekt, als auch eine Versammlung, eine Angelegenheit bezeichnet.
 +
</ref>
 +
 
 +
 
 
Aspekte dieses Gatherings in den Blick zu nehmen, in denen über die Klimakrise gesprochen, von ihr erzählt und über sie nachgedacht wird, versteht Climate Thinking als eine der zentralen Aufgaben und Kompetenzen der Geistes- und Kulturwissenschaften. Dabei darf dieser Zugang jedoch nicht als Schwächung oder gar Abrede von Tatsachen missverstanden werden – obgleich es an der Oberfläche scheinbar eine gefährliche Ähnlichkeit mit Ansätzen einer strategischen Leugnung der Klimakrise gibt und sich ein nur schmaler Grat zwischen Wissenschaftsphilosophie und Verschwörungstheorie zu offenbaren scheint, wie Latour befürchtet.[8] Während es der Wissenschaftsphilosophie – und damit auch Climate Thinking – darum geht, soziale, gesellschaftliche, historische etc. Kontexte der Klimakrise mitzureflektieren und somit den Tatsachen als Matters of Concern geradezu mehr Realität zuzugestehen, als es der bloße Restbegriff der Matters of Fact erlaubt, zielen Verschwörungstheorien darauf ab, die Klimakrise im ausschließlichen Sinne von Matters of Fact zu begreifen und deren absolute Gewissheit in Frage zu stellen:
 
Aspekte dieses Gatherings in den Blick zu nehmen, in denen über die Klimakrise gesprochen, von ihr erzählt und über sie nachgedacht wird, versteht Climate Thinking als eine der zentralen Aufgaben und Kompetenzen der Geistes- und Kulturwissenschaften. Dabei darf dieser Zugang jedoch nicht als Schwächung oder gar Abrede von Tatsachen missverstanden werden – obgleich es an der Oberfläche scheinbar eine gefährliche Ähnlichkeit mit Ansätzen einer strategischen Leugnung der Klimakrise gibt und sich ein nur schmaler Grat zwischen Wissenschaftsphilosophie und Verschwörungstheorie zu offenbaren scheint, wie Latour befürchtet.[8] Während es der Wissenschaftsphilosophie – und damit auch Climate Thinking – darum geht, soziale, gesellschaftliche, historische etc. Kontexte der Klimakrise mitzureflektieren und somit den Tatsachen als Matters of Concern geradezu mehr Realität zuzugestehen, als es der bloße Restbegriff der Matters of Fact erlaubt, zielen Verschwörungstheorien darauf ab, die Klimakrise im ausschließlichen Sinne von Matters of Fact zu begreifen und deren absolute Gewissheit in Frage zu stellen:
 
„Voters believe that there is no consensus about global warming within the scientific community. Should the public come to believe that the scientific issues are settled, their views about global warming will change accordingly. Therefore, you need to continue to make the lack of scientific certainty a primary issue in the debate“[9], empfahl der politische Berater Frank Luntz entsprechend im Wahlkampfjahr 2002 den US-amerikanischen Republikaner*innen.
 
„Voters believe that there is no consensus about global warming within the scientific community. Should the public come to believe that the scientific issues are settled, their views about global warming will change accordingly. Therefore, you need to continue to make the lack of scientific certainty a primary issue in the debate“[9], empfahl der politische Berater Frank Luntz entsprechend im Wahlkampfjahr 2002 den US-amerikanischen Republikaner*innen.

Version vom 17. Februar 2022, 13:56 Uhr

Icon-Zahnrad.png
Dieser Beitrag ist kein inhaltlicher Bestandteil des Living Handbooks, sondern die persönliche Werkstatt-Seite von Nutzer*in Martin Böhnert. Bitte nehmen Sie keine Änderungen an dieser Seite vor, ohne dies zuvor mit Martin Böhnert abgesprochen zu haben.



„Our belief that science alone could deliver us from the planetary quagmire is long dead.“[1] Dieses Zitat des schwedischen Umwelt- und Wissenschaftshistorikers Sverker Sörlin diente dem Forschungs- und Lehrschwerpunkt Climate Thinking als eine Art Ausgangspunkt, Prämisse oder vielleicht besser, als ein Denkanstoß. Der kurze Satz verweist auf verschiedene Grundannahmen, die Sörlin in gerade einmal 15 Worten verbindet, um einen Ist-Zustand zu beschreiben: Hinter einem kollektiven „our“ versammelt sich eine in großer Gefahr befindliche Gemeinschaft, bei der über lange Zeit ein Glaube an eine superheroisch überzeichnete Instanz kursierte, welche „us“ – wenn nicht vom Bösen, so doch vom planetarischen Schlamassel – erlösen könne. Selbstverständlich geht es Sörlin um die Lage der Menschheit im Angesicht der Klimakrise. Aber, so Sörlins nüchterner Befund, selbst wenn Gott respektive die Naturwissenschaft nicht tot ist, so ist es doch der Erlösungsglaube an sie als alleinige Heilsbringer.

Ausgehend von dieser Überlegung fragt der 2020 am Fachbereich für Geistes- und Kulturwissenschaften der Universität Kassel gegründete Schwerpunkt Climate Thinking mit einer kritischen Haltung danach, was eben diese Wissenschaften im Diskurs um die Klimakrise beitragen können. Dabei wird die auch in Sörlins skizziertem Erlösungsglauben mitgedachte, landläufige Überzeugung adressiert, dass die Veränderung des Klimas als ein Umweltproblem und damit als Teil der Natur ausschließlich in den exploratorischen und explanatorischen Zuständigkeitsbereich der Naturwissenschaften falle.[2] Dementsprechend bestimmen diese den Gegenstandsbereich, erforschen die Probleme und schlagen Lösungen vor, die dann üblicherweise technischer Art sind. Eine solche Grundüberzeugung skizziert in ihrer stärksten Überzeichnung ein positivistisches Natur- und Weltbild, so wie es etwa in dem Motto „Zu Fakten gibt es keine Alternative!“ zum Ausdruck kommt, unter dem sich 2017 beim ersten March for Science weltweit Menschen zusammentaten, um der wachsenden – überwiegend populistischen und nicht erkenntnistheoretischen – Skepsis gegenüber wissenschaftlichen Forschungsergebnissen entgegenzutreten.[3] Ein solcher Ruf nach (mehr) Naturwissenschaft hat jedoch auch zur Folge, dass die Klimakrise in einer naturwissenschaftlichen Sprache physikalischer Kausalitäten als abstraktes, biophysisches, entkontextualisiertes und de-politisiertes Ereignis erfahren wird.[4]

Es sollte nicht überraschen, dass – frei nach Edmund Husserl – bloße Tatsachenwissenschaften bloße Tatsachenphänomene imaginieren.[5] Ein auf diese Weise gefasster Begriff der Klimakrise – noch einmal frei nach Husserl – ist dann jedoch bloß ein „Restbegriff“,[6] der nicht berücksichtigen kann, dass die Wissenschaften selbst und auch das von ihnen erforschte Phänomen in komplexen gesellschaftlichen, kulturellen, politischen, ökologischen, technischen, ideengeschichtlichen etc. Zusammenhängen eingebunden sind. Bruno Latour stellt diesem Restbegriff der naturwissenschaftlichen Matters of Fact den Begriff der Matters of Concern entgegen. Dieser Begriff soll die Klimakrise – aber auch andere naturwissenschaftliche Tatsachen von der Doppelhelixstruktur der DNA bis zu unserem Wissen über Dinosaurier – nicht bloß als faktenhaft isolierbares Ding erfassen, auf das verwiesen und über das referiert werden kann. Als Matter of Concern ist die Klimakrise eine Versammlung oder Zusammenkunft („Gathering“) von Ideen, Mächten, Akteur*innen, Praktiken und Schauplätzen, die entsteht und sich entwickelt, indem sie einem eine Angelegenheit ist, man sich um sie kümmert, sich um sie sorgt und besorgt ist.[7]


Aspekte dieses Gatherings in den Blick zu nehmen, in denen über die Klimakrise gesprochen, von ihr erzählt und über sie nachgedacht wird, versteht Climate Thinking als eine der zentralen Aufgaben und Kompetenzen der Geistes- und Kulturwissenschaften. Dabei darf dieser Zugang jedoch nicht als Schwächung oder gar Abrede von Tatsachen missverstanden werden – obgleich es an der Oberfläche scheinbar eine gefährliche Ähnlichkeit mit Ansätzen einer strategischen Leugnung der Klimakrise gibt und sich ein nur schmaler Grat zwischen Wissenschaftsphilosophie und Verschwörungstheorie zu offenbaren scheint, wie Latour befürchtet.[8] Während es der Wissenschaftsphilosophie – und damit auch Climate Thinking – darum geht, soziale, gesellschaftliche, historische etc. Kontexte der Klimakrise mitzureflektieren und somit den Tatsachen als Matters of Concern geradezu mehr Realität zuzugestehen, als es der bloße Restbegriff der Matters of Fact erlaubt, zielen Verschwörungstheorien darauf ab, die Klimakrise im ausschließlichen Sinne von Matters of Fact zu begreifen und deren absolute Gewissheit in Frage zu stellen: „Voters believe that there is no consensus about global warming within the scientific community. Should the public come to believe that the scientific issues are settled, their views about global warming will change accordingly. Therefore, you need to continue to make the lack of scientific certainty a primary issue in the debate“[9], empfahl der politische Berater Frank Luntz entsprechend im Wahlkampfjahr 2002 den US-amerikanischen Republikaner*innen. Hierin zeigt sich letztlich auch die Schwierigkeit des oben zitierten Mottos „Zu Fakten gibt es keine Alternative!“: Sobald es nämlich Alternativen gibt – was wissenschaftsphilosophisch betrachtet weder überraschend noch problematisch ist –, scheint dies im Umkehrschluss zu bedeuten, dass das Ausbleiben unumstößlicher Fakten als Beleg dafür gelten könne, dass im Grunde gar nichts Sicheres über den menschengemachten Klimawandel ausgesagt werden könne und entsprechend auch kein (politischer) Handlungsbedarf bestehe.[10] Dem ist in dieser Verkürzung dringend zu widersprechen. Daraus folgt jedoch nicht – sozusagen zum Wohle des Planeten –, von einer kritischen Reflexion der naturwissenschaftlichen Tatsachenphänomene Abstand nehmen zu müssen. Ganz im Gegenteil weist dies viel mehr darauf hin, dass die (natur-)wissenschaftliche Forschung Teil des Gatherings, Teil der Matters of Concern namens Klimakrise ist. Eine rein naturwissenschaftlich-technisch dominierte Erfassung und Beschreibung der Klimakrise und deren Folgen als Matters of Fact impliziert im Zweifel aber auch eine ausschließlich technisch-technologische Bewältigungsstrategie, bei der etwa soziokulturelle und gesellschaftspolitische Aspekte „hinter mess-, quantifizier- und prognostizierbaren globalen Folgen des Klimawandels“ verschwinden und die „Gefahr einer solchen konzeptionellen Missachtung der komplexen sozialen, politischen und ökonomischen Verhältnisse“ darin liegt, „bestehende soziale Ungleichheiten mittels Anpassungspolitik zu perpetuieren.“[11] Diese Gefahr weisen auch Silja Klepp und Libertad Chavez-Rodriguez in ihrer kulturgeographischen Arbeit aus, in der sie ein sich seit den 1970er Jahren fortschreibendes Opfernarrativ der biophysisch stärker bedrohten Regionen des globalen Südens nachzeichnen, mündend in neo-liberal gefärbten Konzepten von Klimavulnerabilität und Resilienz.[12] Vor diesem Hintergrund wendet sich bei ihnen die nüchtern deskriptive Einschätzung Sörlins zu einem normativen Appell: „[C]limate change cannot be left to natural sciences“.[13] Ein Weg, die Klimakrise stattdessen als Matter of Concern in den Blick zu nehmen, ist es im Sinne von Climate Thinking, zu reflektieren, wie über sie gesprochen, von ihr erzählt und über sie nachgedacht wird. So lässt sich beispielsweise fragen, wer auf welchen Kanälen mit wem und zu welchem Zweck über die Klimakrise spricht – oder darüber schweigt. Dabei wird selbstverständlich nicht nur in Pressetexten und Social Media über die Klimakrise gesprochen und geschwiegen, sondern beispielsweise auch in Dokumentarfilmen oder in der Kunst: „Das Sprechen über den Klimawandel ist ein hochgradig komplexes gesellschaftliches Phänomen, dessen Analyse Einblicke in die gegenwärtige politische Kommunikationskultur, Meinungsbildung und die Formierung politischer Gruppen ermöglicht.“[14] Es lohnt sich aber auch zu beleuchten, wie utopische und dystopische Literatur Welten erzählen, in denen die Folgen des Klimawandels deutlich zutage treten.[15] Solche Welten imaginieren aber nicht nur Literatur, Film oder Videospiel[16], sondern auch andere Medien, die vielleicht nicht gleich in den Blick geraten: Zum erzählen welcher Welt regt beispielsweise der Lego-Konzern an, wenn die Planung der Lego-City im Kinderzimmer aufgrund der verfügbaren Sets noch immer vom Auto als dominantem Transportmittel aus gedacht werden muss, die Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen mittels Tankstellen- und Tanklastwagen-Sets aufrechterhalten wird und nachhaltige Mobilität höchstens als „das Andere“ imaginiert werden kann?[17] In all diesen Zusammenhängen lässt sich aber auch darüber nachdenken, welches Naturverständnis eigentlich vorausgesetzt wird, wenn die Klimakrise unter einem „modernisierungstheoretischen Entwicklungsparadigma [diskutiert wird], dessen Fortschrittsideal und Technologieoptimismus aus der Frühzeit der Industrialisierung stammen“,[18] oder wenn unter sozioökonomischen Gesichtspunkten Natur als zu nutzendes Objekt mit der Sphäre produktiver, bezahlter, männlich konnotierter Arbeit bzw. als zu schützendes Objekt mit der Sphäre reproduktiver, unbezahlter, weiblich konnotierter Arbeit verbunden wird.[19] Auch darüber nachzudenken, inwiefern in ethisch-moralischer Hinsicht die Zusammenhänge von Verursachung und Auswirkung räumlich und zeitlich verschwimmen und ein besonderes Zusammenspiel von individueller Verantwortung und kollektiver Verursachung vorliegt. Und schließlich, welche Form von Wissen über die Klimakrise uns eigentlich vorliegt oder vorliegen kann – wie in diesem Beitrag. Diese bewusst nicht an disziplinären Grenzen, sondern an den drei Zugängen des Sprechens, Erzählens und Nachdenkens von bzw. über die Klimakrise angelegte Ausrichtung, prägen den Ansatz des Lehr- und Forschungsschwerpunkts Climate Thinking, seit seiner Gründung im Sommersemester 2020. Seit dieser Zeit haben nicht nur mittlerweile über 40 Lehrveranstaltungen[20] und eine Ringvorlesung[21] stattgefunden, es ist mit dem Living Handbook-Projekt [22] auch ein Ort geschaffen worden, an dem die Beiträge und Überlegungen nachhaltig dokumentiert und sichtbar gemacht werden. Zudem ist Climate Thinking als Ausstellungsobjekt in die Sonderausstellung „Wunderkammer Moderne“ zum 50-jährigen Jubiläum der Universität Kassel in das Museum eingezogen.[23] All dies trägt dazu bei, die Klimakrise als Matter of Concern begreifbarer zu machen.


- „Aufzeigen, was getan werden soll“[8]

Mit dem Einsatz von Narrativen im Klimawandeldiskurs ist es möglich, der Gesellschaft durch die Verknüpfung von Erzählungen und Fakten die komplexe Problematik näher zu bringen und damit unter Umständen eine Handlungsmotivation zu bewirken.[9]


DUDEN: Orientierung über aktuelle Verwendung der Sprache bieten, Spiegel der zeitgenössischen Sprache und Gesellschaft

Lexikon-Quelle ohne Autorin[10]

Lexikon-Quelle mit Autorin[11]


LH als Forschungsprojekt

Zugang der einzelnen Disziplinen, d.h. eren Methoden, Theorien und Begriffe nutzen um Diskurs zu durchdringen und begrifflich auf neue Weise greifbar machen. Höllein, Dagobert; Wieders-Lohéac, Aline (Hrsg.) (in Vorb.): Fridays for Future. Sprachliche Perspektiven auf eine globale Bewegung.



Tübingen: Narr.


[12]

Veröffentlichungen im Rahmen von Climate Thinking

  • Höllein, Dagobert/Wieders-Lohéac, Aline (Hrsg.) (i.V.): Fridays for Future. Sprachliche Perspektiven auf eine globale Bewegung. Tübingen: Narr.
  • Böhm/Reszke
  • Böhnert/Reszke

Vorlesungsreihe 2021 LISTE

Vorstellung des Forschungsprojekts LISTE


Wissen Intro

Eine solche Reflexion eröffnet etwa den Blick auf in Konkurrenz stehende Wissensformen und Debatten um die Rechtfertigung und Begründung von Wissensansprüchen. Vor diesem Hintergrund wird aus dem vermeintlich stabilen und abgeschlossenen Wissensbegriff des Alltags ein komplexes Phänomen.


Aspekte der Wissensreflexion

Tatsachen

Für „Wissensgesellschaften“ [13] scheint es wie selbstverständlich, sich auf (wissenschaftliche) Tatsachen zu berufen. Doch bereits die Frage danach, was von wem und in welchen Kontexten als Tatsache anerkannt wird, eröffnet den Blick auf den Tatsachenbegriff selbst. Hier lassen sich etwa ein vorreflexiver Begriff aus der Alltagssprache, ein wissenschaftshistorischer Begriff der Wissenschaftsgeschichte, ein wissenssoziologischer Begriff aus der Wissenschaftsforschung und ein sozialontologischer Begriff aus der Sprachphilosophie unterscheiden.

Objektivität

Ähnlich selbstverständlich wie die Bezugnahme auf Fakten erscheint die Forderung nach Objektivität. Doch auch dieser Begriff ist bei genauerer Betrachtung weniger eindeutig, als unsere alltägliche Bezugnahm suggeriert. So zeigt Lorraine Daston in ihrer wissenschaftshistorischen Arbeit, dass bei der Bezugnahme auf Objektivität oft ganz verschiedene Bereiche miteinander vermengt werden: „Mühelos gleiten wir von Aussagen über die ‚objektive Wahrheit‘ einer wissenschaftlichen Behauptung hinüber zu solchen über die ‚objektiven Verfahren‘, die einen Befunde untermauern, und weiter zu solchen über die ‚objektive Haltung‘, die einen Forscher auszeichnet.“[14] Zudem zeige die historische Entwicklung des Objektivitätsbegriffs, dass – banal ausgedrückt – Objektivität nicht objektiv ist.

Tugenden der Wissensproduktion und -rezeption

„Solange Erkenntnis einen Erkennenden postuliert und solange der Erkennende als potentielle Hilfe oder Hürde für die Erwerbung von Erkenntnis gilt, wird sein Selbst ein erkenntnistheoretisches Thema sein.“ [15] Mit dieser Überlegung gelangt das erkennende Subjekt in den Blick. Damit es der Erkenntnis nicht als Hürde im Weg steht, lassen sich spezifische normative Tugenden formulieren, auf die sich das erkennende Subjekt bei seiner oder ihrer Tätigkeit berufen soll: Dies sind einerseits charakterbezogene Tugenden wie Geduld, Aufmerksamkeit, Genauigkeit, Beharrlichkeit oder Strenge, aber auch verfahrensbezogene Tugenden wie Objektivität, Exaktheit, Einfachheit, Konsistenz und Akkuratheit, die ihrerseits Einfluss auf das Auskommen des Erkenntnisprozesses haben. Die Philosophin Helen Longino stellt mit Blick auf epistemische Tugenden heraus, dass es sich bei der Einnahme dieser um Entscheidungen des erkennenden Subjekts handelt und dass zwar ein traditionsbedingter, jedoch kein unumstößlicher Kanon bestehe. Daraus folgert sie, dass der Kanon durchaus zur Disposition steht und entsprechend erweitert oder verändert werden könne und schlägt Tugenden wie Heterogenität, methodische Neuartigkeit, die Berücksichtigung der Komplexität von Zusammenhängen oder die Dezentralisierung von Machtverhältnissen als Tugenden vor.[16] Der Philosoph Don Fallis stellt zudem heraus, dass sich Tugenden nicht nur in der Wissensproduktion reflektieren lassen, sondern auch die erkenntnistheoretischen Tugenden der Rezipierenden von Wissen reflektieren lassen.


Personen Artikel

Armin Nassehi

Armin Nassehi (* 1960) ist ein deutscher Soziologe und Professor für Allgemeine Soziologie und Gesellschaftstheorie an der Ludwig-Maximillians-Universität München. Nassehi forscht und publiziert zu

Bruno Latour

Bruno Latour (* 1947) ist ein französischer Soziologe, Wissenschaftshistoriker und Philosoph. Latour ist emeritierter Professor an der Sciences Po, Paris und arbeitete zuvor u. a. am Centre de Sociologie de l'Innovation, Mines ParisTech, sowie der London School of Economics und der University of Amsterdam. Zudem war Latour als Kurator der Ausstellungen Iconoclash (2002) und Making Things Public (2005) am Karlsruher Zentrum für Kunst und Medientechnologie tätig.

  1. Sörlin, Sverker (2012): Environmental Humanities. Why Should Biologists Interested in the Environment Take the Humanities Seriously?. In: BioScience 62(9), S. 788-789, hier S. 788.
  2. Vgl. hierzu die Überlegungen in Elliott, Alexander; Damodaran, Vinita; Cullis, James (2017): Introduction. In: Elliott, Alexander; Cullis, James; Damodaran, Vinita (Hrsg.): Climate Change and the Humanitis. Historical, Philosophical and Interdisciplinary Approaches to the Contemporary Environmental Crisis, London: Crisis, S. 1-11. Sowie Mutschler, Hans-Dieter (2002): Naturphilosophie. Stuttgart: W. Kohlhammer, S. 8.
  3. Zinkant, Kathrin (23. April 2017): Sciences Marches – Zu Fakten gibt es keine Alternative. In: Süddeutsche Zeitung. Online, zuletzt abgerufen am 17.02.2022.
  4. Vgl. Bravo, Michael T. (2009): Voices From the Sea Ice: the Reception of Climate Impact Narratives. In: Journal of Historical Geography 35(2), S. 256-278, hier S. 259. Online, zuletzt abgerufen am 17.02.2022.
  5. Bei Husserl lautet es: „Bloße Tatsachenwissenschaften machen bloße Tatsachenmenschen.“ Husserl, Edmund (1937/2012): ie Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie. Hamburg: Meiner, S. 6.
  6. Husserl, Edmund (1937/2012): ie Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie. Hamburg: Meiner, S. 9.
  7. Vgl. Latour, Bruno (2004): Why Has Critique Run Out of Steam? From Matters of Fact to Matters of Concern. In: Critical Inquiry 30(2), S. 225-248, hier S. 231-237. Latour verweist an dieser Stelle auch mit Bezugnahme auf Martin Heidegger auf die Etymologie des Wortes „Ding“, welches im mittelhochdeutschen „thing“ gleichzeitig eine Sache, ein Objekt, als auch eine Versammlung, eine Angelegenheit bezeichnet.
  8. Espinosa, Cristina; Pregernig, Michael; Fischer, Corinna (2017): Narrative und Diskurse in der Umweltpolitik: Möglichkeiten und Grenzen ihrer strategischen Nutzung. Umweltbundesamt Texte (86), Online, zuletzt abgerufen am 12.01.2022.
  9. Vgl. Hulme, Mike (07.12.2020): Ein Problem, das sich nicht lösen lässt. In: Welt-Sichten. Online, zuletzt abgerufen am 11.01.2022.
  10. [Lemma] Gurke. In: Müller, Johnny (Hrsg.): Lexikon der Gemüsesorten, Bd. 3, Bottrop: Pittiplatsch (1991), S. 456.
  11. Hennef, Helga: [Lemma] Gurke. In: Müller, Johnny (Hrsg.): Lexikon der Gemüsesorten, Bd. 3, Essen: PuttiPlutsch (1991), S. 123.
  12. Höllein, Dagobert; Wieders-Lohéac, Aline (Hrsg.) (in Vorb.): Fridays for Future. Sprachliche Perspektiven auf eine globale Bewegung. Tübingen: Narr.
  13. Siehe etwa Willke, Helmut (1997): Supervision des Staates. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
  14. Daston, Lorraine (2001): Objektivität und die Flucht aus der Perspektive. In: Daston, Lorraine (Hrsg.): Wunder, Beweise und Tatsachen, Frankfurt: Fischer, S. 127-156, hier S. 127.
  15. Daston, Lorraine; Galison, Peter (2007): Objektivität. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, S. 43.
  16. Vgl. Longino, Helen (1994): In Search of Feminist Epistemology. In: The Monist 77(4), S. 472-485, hier S. 476.