Benutzer: Serhat Dal/Werkstatt
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Tatsachenbegriff von Searle
Dieser Artikel beschäftigt sich mit dem sprachphilosophischen Begriff der Tatsache, wie er vor allem durch den Philosophen John Searle geprägt wurde.
Rohe und institutionelle Tatsachen
Searle stellt sich die Ausgangsfrage, was an einem 50-Dollar-Schein diesen zu Geld macht, denn hierzu seien dessen physischen Beschaffenheiten eher irrelevant. [1] Geld wird von ihm neben, Heirat oder Präsidenten der Vereinigten Staaten als beispielhaft für eine Kategorie unserer Realität angeführt, die dadurch konstituiert wird, dass wir sie für das jeweils Entsprechende erachten, die folglich „nur deshalb existiert, weil wir denken, dass sie existiert". [2] Searle bezeichnet diese Kategorie als institutionelle Tatsachen (institutional facts) und grenzt diese von rohen Tatsachen (brute facts) ab. Als rohe Tatsachen beschreibt Searle Tatsachen, wie Schnee auf dem Mount Everest oder, dass die Sonne dreiundneunzig Millionen Meilen von der Erde entfernt ist (vgl. Searle 1999, S. 123). Um seine Unterscheidung klarer zu machen, führt Searle das Konzept der Beobachtungsabhängigkeit bzw. -unabhängigkeit ein.
Charakteristisch für rohe Tatsachen ist es nach Searle, dass sie unabhängig davon sind, ob sie von Menschen – in einem sehr weiten Sinne – beobachtet oder wahrgenommen werden: Gäbe es keine Menschen mehr, würde die Landform, die wir heute Mount Everest nennen, dennoch in der Welt existieren. Die Frage, was einen Berg ausmacht und wann etwa ein Tal anfängt, also kurz gesagt, inwiefern Menschen beginnen eine Landform als Berg zu bestimmen, ist hingegen ein bspw. geologisches Gegenstandsfeld, das wiederum beobachtungsabhängig ist. Alle Aspekte des „Mount Everest“ als kartographierte Landform, dessen Erhebung anhand seiner Höhe über dem Meeresspiegel beschrieben wird, fallen entsprechend in den Bereich institutioneller Tatsachen. Für institutionelle Tatsachen ist es konstituierend, dass Sie beobachtungsabhängig sind, als nur aus dem Grund in der Welt existieren, weil sie in einem sehr breiten Sinne von Menschen beobachtet oder wahrgenommen werden: Gäbe es keine Menschen mehr auf der Welt, dann würde der 50-Dollar-Schein als gesellschaftliche Übereinkunft nicht mehr existieren, sondern nur noch ein bedrucktes Stück Papier sein.
Zusammenfassend kann man sagen, rohe Tatsachen „sind in der Welt“ und institutionelle Tatsachen werden erst „in der Welt erschaffen“, weil wir als Kollektiv daran glauben. Im Folgenden soll es darum gehen, darzulegen, wie Searle das Zustandekommen institutioneller Tatsachen erklärt, und zwar als ontologisch subjektive Phänomenen – d. h., dass diese nur aufgrund unseres subjektiven Dafürhaltens in der Welt existieren –, die aber gleichzeitig objektiv erfahrbar und erforschbar sind, weil sie eine kausale Wirkung auf die Welt haben – bspw. wenn ein bestimmtes Arial als Naturschutzgebiet deklariert wird und damit dessen Nutzung erheblichen Einschränkungen unterliegt.
Drei Voraussetzungen institutioneller Tatsachen
Searle erachtet für das Konzept institutioneller Tatsachen drei Elemente als notwendig, nämlich kollektive Intentionalität, Funktionszuweisungen und konstitutive Regeln. Alle drei müssen nicht aufeinanderfolgend, sondern gemeinsam erfüllt werden.
Kollektive Intentionalität
Um kollektive Intentionalität in ihrer Rolle als Voraussetzung institutioneller Tatsachen zu beschreiben, muss zuerst geklärt werden, was Intentionalität selbst bedeutet. Man kann Intentionalität allgemein als die Art und Weise verstehen, wie sich der Geist auf die Welt bezieht (vgl. Lutz 2015, S. 664), etwa indem jemand etwas hofft, wünscht, befürchtet oder behauptet. Kollektive oder geteilte Intentionalität meint dann, gemeinsam etwas zu hoffen, wünschen, befürchten oder behaupten und somit das Teilen von Hoffnungen, Wünschen, Befürchtungen oder Behauptungen mit anderen Individuen. Searle unterscheidet entsprechend zwischen individueller Intentionalität der Form „I intend“ und kollektiver Intentionalität der Form „we intend“ (Searle 1999, S. 118) und geht davon aus, dass kollektive Intentionalität nicht auf individuelle Intentionalität reduziert werden kann Searle verdeutlicht seine Überzeugung an einem Beispiel: In einem Orchester, das eine Symphonie spielt, beabsichtigt jedes Orchestermitglied die eigene Rolle individuell zu spielen. Gleichzeitig gäbe es jedoch die geteilte Absicht des gesamten Orchesters, gemeinsam die Symphonie zu spielen: „Even if by chance the individual members were all rehearsing their parts in a way that happened to be synchronized, so that it sounded like the symphony, there is still a crucial difference between the intentionality of collective cooperative behavior and that of individual behavior“ (Searle 1999, S. 120). Dieses Beispiel sei übertragbar und gelte auch für Fußballmannschaften oder politische Versammlungen, das heißt wenn Menschen Hoffnungen, Wünschen, Befürchtungen oder Behauptungen miteinander teilen, ist dies ein Anzeichen kollektiver Intentionalität.
Funktionszuweisung
Als zweite Bedingung nennt Searle die Funktionszuweisung. Man kann Dingen Funktionen zuschreiben und somit etwas als etwas anderes benutzen, etwa einen Gegenstand aus Metall, um damit einen Nagel einzuschlagen, oder einen langen Stock, um eine Banane zu erreichen. Searle meint, dass die erste Ebene einer Funktionszuweisung auf einer intrinsischen Funktionalität basiert: man kann Dinge aufgrund bestimmter physikalischer Eigenschaften eine Funktion zuweisen, bspw. aufgrund der Beschaffenheit des Gegenstandes aus Metall und nicht aus Glass. Funktionszuschreibungen sind nach Searle immer beobachtungsabhängig, da zwar ihre physikalische Beschaffenheit Voraussetzung für die zugeschriebene Funktion ist, welche Funktion dem Objekt jedoch zugeschrieben wird, hängt von den Benutzer*innen ab. Man stelle sich einen Stuhl vor, so Searle: Dieser habe eine bestimmte Masse, Form und Molekularstruktur, die beobachtungsunabhängig ist. Die Funktionszuweisung jedoch, dass dieser Gegenstand gut dazu taugt, darauf zu sitzen, ist beobachtungsabhängig – man könnte ihm aufgrund seiner physikalischen Beschaffenheit auch die Funktion eines Tisches, Tritthockers oder Briefbeschwerers zuschreiben (vgl. Searle 1999, S. 116). Ein weiteres Beispiel das Searle anbringt, ist, dass wir dem Herzen die Funktion zuschreiben, Blut zu pumpen, weil wir davon ausgehen, das Pumpen von Blut dem Leben und dem Überleben dient und damit ist diese Funktion, wie oben erwähnt, auch abhängig von dieser Annahme und dementsprechend beobachtungsabhängig in einem weiten Sinne (vgl. Searle 1999, S. 123).
Konstitutive Regeln
Die dritte Voraussetzung für institutionelle Tatsachen ist für Searle das Aufstellen konstitutiver Regeln. Searle unterscheidet konstitutive Regeln von regulierenden Regeln. Regulierende Regeln regulieren einen bestimmten Ablauf oder zuvor vorherrschende Verhaltensweisen. Die Regel der Straßenverkehrsordnung etwa, die besagt, dass in Deutschland auf der rechten Fahrbahnseite zu fahren ist, ist insofern regulierend, als sie ein bereits bestehendes Verhalten – das Fahren auf der Fahrbahn – reguliert. Nicht alle Regeln sind regulativ, denn es gibt auch sogenannte konstitutive Regeln, die nicht nur regulieren, sondern konstituieren. Searle verdeutlicht den Unterschied anhand des Beispiels der Schachregeln. Schachregeln regulieren nicht ein bestehendes Verhalten, bei dem Personen Holzstücke auf einem Brett herumschieben, sondern bestimmen grundlegend, welche Spielfigur, welche Funktion hat, wie diese gezogen werden kann und was den Beginn und das Ende einer Partie bestimmt. Ohne diese Regeln kann nicht von einem Schachspiel die Rede sein, weshalb diese Regeln konstitutiv für Schach sind: Erst wenn bestimmte Regeln berücksichtigt werden und Abläufe passieren, kann man von Schach spielen reden (vgl. Searle 1999, S. 123). Searle fasst diese konstitutiven Regeln in der Formel „X zählt als Y in (Kontext) K“ zusammen: „In the context of a chess game, such-and-such a move on the part of a certain shape of piece counts as a move by the knight. Such-and-such a position on the board counts as a check-mate“ (Searle 1999, S. 124).
Ein Modell institutioneller Tatsachen
Das Vorhandensein der drei genannten Elemente kollektive Intentionalität, Funktionszuweisungen und konstitutive Regeln, erlaubt es nach Searle institutionelle Tatsachen zu erschaffen: In Verbindung mit Funktionszuweisungen erlauben konstitutive Regeln Searle zufolge, das Zustandekommen von Funktionen zweiter Ebene, nämlich unabhängig von ihrer physikalischen Beschaffenheit. Aufrechterhalten wird dieser Status wiederum aufgrund unseres kollektiven Dafürhaltens. Diese kollektiv anerkannten Statusfunktionen sind der Kern institutioneller Tatsachen, d. h. wie oben beschrieben, Tatsachen, die in ihrer Existenz (d. h. ontologisch) beobachtungsabhängig und damit subjektiv sind, jedoch mit Blick auf unser Wissen um sie (d. h. erkenntnistheoretisch) beobachtungsunabhängig und somit objektiv erfahrbar und erforschbar sind. Anhand des Beispiels eines 50-Dollar-Scheins lässt sich dies gut illustrieren. Im Kontrast zu konkreten Tauschmitteln wie Kaffee oder Warengeld wie Gold, hat ein 50-Dollar-Schein keinen Eigenwert, der auf seine Materialität zurückzuführen ist. Gerade dies macht deutlich, dass es sich hierbei um eine institutionelle Tatsache im Sinne Searles handelt: a) es bedarf einer Funktionszuweisung unabhängig der physikalischen Beschaffenheit, da das Papier, aus dem der 50-Dollar-Schein besteht, selbst nicht 50-Dollar entspricht; b) diese wird entsprechend einer konstitutiven Regel formuliert, die sich auf einen bestimmten Kontext bezieht; und c) es bedarf dem kollektiven Dafürhalten, dass dieses Papier ein 50-Dollar-Schein ist. Das bedeutet, dass sich als Antwort auf die Eingangsfrage, was genau an einem 50-Dollar-Schein, diesen zu Geld macht, sagen lässt, dass das spezifisch bedruckte Papier (X) mit bestimmten Aufdrucken wie dem „Euro-Zeichen“ die Funktion von Geld bzw. Zahlungsmittel (Y) in einem bestimmten Kontext hat, wie der Europäischen Union bzw. den Vorgaben der Europäischen Zentralbank (K). Das Gesetz als konstitutive Regel definiert, was Zahlungsmittel sind und diese Funktion wird dem bedruckten Papier übertragen. Daher gilt die Annahme von Euro-Banknoten beim Kauf bspw. einer Jacke.
Klimawandel als rohe und institutionelle Tatsache
In der öffentlichen Debatte wird häufig eine (meist naturwissenschaftlich-technische) Perspektive auf den Klimawandel eingenommen, die den Klimawandel als rohe Tatsache begreift. Wenn man wissenschaftliche Tatsachen wie Bruno Latour als Resultate langandauernder „Institutionalisierungsprozesse“ (Latour 2002, S. 381) versteht, dann wird klar, dass der Gegenstand der Naturwissenschaften zwar (häufig) rohe Tatsachen sind, aber jede Form der Beschreibung sie in institutionelle Tatsachen überführt. Denn der Klimawandel kann als soziales Phänomen und gleichzeitig als beobachtungsunabhängiger Prozess verstanden werden, wie im obigen Beispiel, ein Berg für Searle Aspekte der rohen und institutionellen Tatsachen umfasst. Entsprechend ließe sich zwischen rohen und institutionellen Tatsachenaspekten des Klimawandels unterscheiden: Etwa die weltweite bodennahe Lufttemperatur oder das Abschmelzen von Gletschern einerseits als rohe Tatsachenaspekte, „Klima“ als Beschreibung des Zustands der Atmosphäre über einen mindestens 30-jährigen Zeitraum, der Verweis auf die klimatische Veränderung als „Erderwärmung“, „Klimawandel“ oder „Klimakrise“ oder die Forderungen des Pariser Klimaschutzabkommens von 2015 andererseits als institutionelle Tatsachenaspekte. Begreift man Tatsachen wie sie Searle versteht, können institutionelle Tatsachen eindeutig nicht isoliert von rohen Tatsachen betrachtet werden, da Searle argumentiert, dass das Ziel institutioneller Strukturen darin besteht, rohe Tatsachen zu kontrollieren und sie sprachlich und damit gesellschaftlich verankert zu beschreiben. Denn Eine rohe Tatsache macht uns nicht verantwortlich bzw. verpflichtet uns zu nichts, aber als institutionelle Tatsache verleiht sie uns Rechte und erlegt uns Pflichten auf und zwingt uns damit zum Handeln (vgl. Searle 1999, S. 131).
Belege
Literaturverzeichnis
Latour, Bruno (2002): Die Hoffnung der Pandora. Untersuchungen zur Wirklichkeit der Wissenschaft. 1. Auflage. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Lutz, Bernd (Hg.) (2015): Metzler Philosophen Lexikon. Von den Vorsokratikern bis zu den Neuen Philosophen. Dritte, aktualisierte und erweiterte Auflage, Sonderausgabe. Stuttgart: Verlag J.B. Metzler.
Searle, John R. (1999): Mind, language, and society. Philosophy in the real world. 1. paperb. ed. New York, NY: Basic Books (MasterMinds series).
Searle, John R. (2006): Social ontology. In: Anthropological Theory, Band 6, Nummer 1, S. 12–29.