Benutzer: Amelie Streitz/Werkstatt

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Die Natur als Rechtssubjekt Muss die Natur für ein „Gutes Leben“ erst zum Rechtssubjekt werden?

Der Naturschutz und nachhaltiges Wirtschaften sind zwei Begriffe, die in der Debatte zum Klimawandel eine große Rolle spielen. Für die Menschen in einer kapitalistisch geprägten Welt bedeutet das ein Umdenken, das Jahrhunderte alte Denkmuster auf den Kopf stellt. Der Wind weht jetzt aus Südamerika, wo das Konzept des Buen Vivir eine Möglichkeit zur Veränderung darstellt, indem die Natur nicht als Objekt, sondern als Subjekt verstanden wird. Ecuador hat als erstes Land im Jahr 2008 das Buen Vivir mit in die Verfassung aufgenommen und sichert dadurch einen verantwortungsbewussten Umgang mit der Natur, zumindest auf dem Papier. Was bedeutet die Natur als Rechtssubjekt und was verändert sich dadurch wirklich?

Die Natur als Rechtssubjekt in der ecuadorianischen Verfassung

„Nature, or Pacha Mama, where life is reproduced and occurs, has the right to integral respect for its existence and for the maintenance and regeneration of its life cycles, structure, functions and evolutionary processes. All persons, communities, peoples and nations can call upon public authorities to enforce the rights of nature. To enforce and interpret these rights, the principles set forth in the Constitution shall be observed, as appropriate. The State shall give incentives to natural persons and legal entities and to communities to protect nature and to promote respect for all the elements comprising an ecosystem.“ [1]

Der Artikel 71 der ecuadorianischen Verfassung gibt der Natur oder auch Pachamama (Mutter Erde oder auch Mutter Kosmos) das Recht auf ganzheitlichen Respekt für ihre Existenz sowie für die Erhaltung und Regeneration ihrer Lebenszyklen, Strukturen, Funktionen und evolutionären Prozesse. Die Zerstörung der Natur wäre demnach ein Verstoß gegen das Grundgesetz. Damit hat Ecuador eine Grenze verschoben, denn plötzlich wird die Natur zu einem Rechtssubjekt. Dieser Rechtsstatus schreibt dem Subjekt grundsätzlich eigene Rechte und Pflichten zu und erlaubt ihm, aktiv an dem Rechtsverkehr teilzunehmen. So ein Subjekt können nach deutscher Definition natürliche oder juristische Personen sein, die sich durch ihre unterschiedlichen Rechte und Pflichten jedoch nochmal voneinander differenzieren. Das verdeutlicht, dass die Rechtssubjektivität kein absoluter, sondern ein relativer Status ist [2]. Diese Strukturen wurden in Ecuador dehnbar gemacht. Da der Staat der Natur diese Rechte zuspricht, verpflichtet er sich nicht, die Natur wie ein Objekt zu schützen. Vielmehr geht der Staat davon aus, dass die Natur bei einem Verstoß gegen ihre Rechte von allen natürlichen und juristischen Personen jeder Gemeinschaft, jeder Nationalität und jedes Volkes vertreten werden kann, um von der öffentlichen Gewalt die Wahrung der Rechte der Natur zu verlangen.

Im deutschen Grundgesetz ist das anders. In Artikel 20a GG verpflichtet sich der Staat dazu, die natürlichen Lebensgrundlagen zu wahren: „Der Staat schützt auch in Verantwortung für die künftigen Generationen die natürlichen Lebensgrundlagen und die Tiere im Rahmen der verfassungsmäßigen Ordnung durch die Gesetzgebung und nach Maßgabe von Gesetz und Recht durch die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung“ [3]. Indem der deutsche Staat die natürlichen Lebensgrundlagen und die Tiere schützen möchte, erfolgt eine automatische Objektivierung und Absprache von Rechten.

Es macht sich jedoch bemerkbar, dass in dem Artikel 20a nicht von Natur oder Naturschutz gesprochen wird, sondern lediglich von dem Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen. Diese Differenzierung offenbart den Mittelpunkt des deutschen Grundgesetzes, der sich um den Menschen als Bezugspunkt dreht. Lässt sich daraus ableiten, dass jene Natur, die keine natürliche Lebensgrundlage des Menschen ist, nicht durch den Staat schützenswert ist? Wo das deutsche Grundgesetz den Naturschutz zugunsten der Aufrechterhaltung des Menschen wahrt, verlangt die ecuadorianischen Verfassung den Ausdruck des Respekts vor der Natur - die nicht dem Menschen dient, sondern den Menschen wie eine Mutter geschaffen hat.

Natur in der indigenen Kosmosvision

Doch was ist in Ecuador anders, dass die Natur anders behandelt wird als in Deutschland? In Ecuador leben viele verschiedene Bevölkerungsgruppen mit unterschiedlichen Traditionen. DIe Völker, die sich nicht dem westlichen Lebensstil angepasst haben, leiden verstärkt unter den Folgen des Extraktivismus. Während im Extraktivismus die Natur als Ressource betrachtet wird, stellt sie für indigene Völker hingegen häufig den Lebensraum dar. Und darüber hinaus wird ihr noch ein spiritueller Wert zugeschrieben, der auch in der Weltanschauung dieser Kulturen veranket ist. Die ecuadorianische Autorin Nina Pacari beschreibt, was die Natur für die indigene Weltanschauung der ecuadorianischen indigenen Gruppe namens kichwa otavalo bedeutet: „Nach der indigenen Weltanschauung sind alle Wesen in der Natur mit der Energie des Samai ausgestattet und somit Wesen, die Leben haben: ein Stein, ein Fluss (Wasser), der Berg, die Sonne, die Pflanzen, Lebewesen haben Leben, und auch sie haben eine Familie, Freude und Trauer, genau wie der Mensch. So steht jedes dieser Wesen in Beziehung zueinander […]. Mit anderen Worten können wir sagen, dass wir alle Teil eines Ganzen sind und dass wir, obwohl wir unterschiedlich sind, uns ergänzen. Wir brauchen uns gegenseitig.” [4]

Daraus wird deutlich, dass in der Kosmologie der kichua otavalo die Verbindung der sogenannten Wesen durch eine spirituelle Energie geschaffen wird. Inwiefern diese Annahme mit der aktuellen Wissenschaft vereinbar ist, soll in diesem Artikel nicht weiter angesprochen werden. Ebenso wenig soll der Eindruck entstehen, dass es


neben der spirituellen Bedeutung auch eine emotionale Bindung zur Natur ausgeprägt ist. Alle Wesen sind demnach vereint in einer großen Familie, verbunden durch die fließende Energie des Samai. Die Bezeichnung der Pachamama verdeutlicht ebenfalls das Konzept der Familie. Häufig findet man Personifizierungen von Landschaften und Pflanzen, die den Rollenbildern von Familienmitgliedern zugeordnet sind. So gibt es in der andinen Kosmovision neben der Pachamama auch den Sonnenvater (Tayta Inti) und noch viele mehr. Sie tragen eine besondere Stellung in der indigen geprägten Gesellschaft und werden durch Rituale sowohl im Alltag, als auch bei größeren Festlichkeiten verehrt. So erhält beispielsweise in den andinen Traditionen die Pachamama den ersten Schluck Chicha (alkoholisches Maisgetränk), indem ein bisschen Flüssigkeit aus dem Glas auf den Boden gekippt wird.

Und trotz des unterschiedlichen Kontextes weisen die menschliche Familie und die Familie des Kosmos viele Analogien auf. Und um das zu schützen, sichtert das alternative Konzept des Buen Vivir in der ecuadorianischen Verfassung, dass es keinen Unterschied „zwischen der Art der Beziehung unter den Menschen und derjenigen der Menschen mit dem Raum, in dem sie leben" [5] gibt.

Ein kleiner Abstecher führt zur Kinder- und Jugendliteratur, in der solche Personifizierungen gerne aufgegriffen werden. So entwickelt sich ein zugängliches Bild von z.B. einem Berg, der als Großvater angesprochen wird. Solche Personifizierungen können in der westlichen Mentalität schnell auf Ungläubigkeit stoßen, denn ein Großvater ist ein Mensch und ein Berg nunmal ein Berg, oder? In La tierra de las papas deckt die spanische Protagonistin ein westliches Klischee ab und schreib aus ihrer spanischen Perspektive: „Hier denkt man nie an die Mutter Erde, geschweige denn, daß sie lebendig sei. Wenn du krank bist, sind irgendwelche Streptokokken daran schuld und nicht die Pachamama. Die schneebedeckten Berge sind zum Ski fahren da und werden nicht als irgendwelche Großväter angesehen. Kinder sind Kinder und Erwachsene sind Erwachsene" [6].

„Der Kapitalismus als Weltsystem hat die Natur in eine scheinbar unerschöpfliche Rohstoffquelle verwandelt" [7]

Der Umgang mit der Natur als Rechtssubjekt bricht die Vorstellungen der westlichen Kultur und dem damit verbundenen Gedanken an Fortschritt und Entwicklung. Der westliche Wohlstand basiert auf dem Modell der Ausbeutuung der Natur, um mehr Reichtum und mehr Wachstum zu schaffen. Diese Ziele sind mit dem Schutz der Natur unvereinbar [8] und bestätigt nur die anthropozentrische Lebensform, die sich bereits in Artikel 20a GG angedeutet hat. Die westliche Gesellschaft hat die Natur definiert, ohne sich selbst einzuschließen und dadurch den Weg frei gemacht, sie zu beherrschen und zu manipulieren. Doch um mit dem Buen Vivir etwas verändern zu können, ist eine andere Wirtschaft erforderlich, die nicht das Kapital im Auge hat, sondern eine Annäherung zur Natur und einen Wandel der Wertevorstellungen beinhaltet [9].

Doch dem Kapitalismus die Schuld für die westliche Mentalität zuzuschreiben, bringt die komplexe Debatte nicht voran. Eher muss sich gefragt werden, was durch den Umgang mit der Natur als (Rechts-)subjekt wirklich verändert wird. Denn ohne die emotionale Verbindung zur Natur, bleibt sie vielleicht nur ein Objekt der Wirtschaft. So gehen viele Intellektuelle, wie z.B. auch Luis Macas (Rechtsanwalt und Ex-Präsident des Dachverbands der Indigenen Nationalitäten Ecuadors) oder David Choquehuanca (aktueller Vizepräsident Boliviens, Stand März 2022) davon aus, dass das Buen Vivir keine Politik des Nationalstaats sein kann, sondern in der Gemeinschaft verankert sein muss [10]. Neue Realitäten werden nicht durch die Politik gebildet, sondern außerhalb des Systems „an den Rändern der wirklich existierenden Welt" [11]. Der Staat kann kein Umdenken erreichen, indem Gesetze einfach verabschiedet werden. Das Umdenken kommt nicht von oben, sondern von den Menschen selbst. Doch zumindest ist Ecuador mit der Natur als Rechtssubjekt einen Weg gegangen, den sich das deutsche Rechtssystem noch nicht traut. Auch wenn das Umdenken ein Prozess ist und weder vom Staat, noch von den Menschen selbst erzwungen werden kann, ist ein Zeichen gesetzt worden: Die Natur ist Ecuador wichtig und die Menschen sind ein Teil der Natur. Der Weg für ein neues Gleichgewicht wird vom Staat zumindest unterstützt und gefördert. Vielleicht ist die Subjektivierung der Natur der Schlüssel für eine nachhaltigere Lebensweise, vielleicht ist sie aber auch eine Utopie der Optimist*innen.


Belege

  1. Georgetown University (2011): Constitution of the Republic of Ecuador. In: Political Database of the Americas. Online, zuletzt abgerufen am 20.03.2022.
  2. vgl. Jens Kersten (2020): Natur als Rechtssubjekt Für eine ökologische Revolution des Rechts. In: Bundeszentrale für politische Bildung. Online, zuletzt abgerufen am 20.03.2022.
  3. Bundeszentrale für politische Bildung (Hrsg.) (2019): Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland. Bonn: CPI books GmbH, S. 22.
  4. Übersetzung der Autorin, Original: „Según la cosmovisión indígena, todos los seres de la naturaleza están investidos de energía que es el samai y, en consecuencia, son seres que tienen vida: una piedra, un río (agua), la montaña, el sol, las plantas, en fin, todos los seres tienen vida y ellos también disfrutan de una familia, de alegrías y tristezas, al igual que el ser humano. Así es como cada uno de estos seres se relacionan en entre sí, al igual que con el hombre (ser humano), con la cultura, la organización, la religión, la filosofía, la arquitectura, la salud, el idioma, la política, la tierra, el territorio, la biodiversidad (recursos naturales), el poder en sí o el ejercicio del poder gubernativo. En otras palabras, podemos decir que todos somos parte de un todo; que, no obstante ser distintos, somos complementarios, nos necesitamos mutuamente"
    Aus: Nina Pacari (2008): Naturaleza y territorio desde la mirada de los pueblos indígenas. In: Antonio Luis Hidalgo‐Capitán, Alejandro Guillén García, Nancy Deleg Guazha (Hrsg.): Antología del Pensamiento Indigenista Ecuatoriano sobre Sumak Kawsay, Huelva, Cuenca: FIUCUHU, S. 129-132.
  5. Raúl Zibechi (2015): Das Buen Vivir als die „andere mögliche Welt": Widersprüche, Grenzen und Möglichkeiten ded Konzepts im Nationalstaat. In: Julia Roth (Hrsg.): Lateinamerikas koloniales Gedächtnis. Vom Ende der Ressourcen, so wie wir sie kennen, Baden-Baden: Nomos, S. 72.
  6. Beispiel für ein Kinderbuch: Paloma Bordons (2008): Bolivien - Land der Erdäpfel. La tierra de las papas. München: Lagrev Verlag, Edicion Hispano America.
  7. Alberto Acosta (2016): Buen Vivir. Vom Recht auf ein gutes Leben. München: oekom verlag, S. 93.
  8. vgl. Raúl Zibechi (2015): Das Buen Vivir als die „andere mögliche Welt": Widersprüche, Grenzen und Möglichkeiten ded Konzepts im Nationalstaat. In: Julia Roth (Hrsg.): Lateinamerikas koloniales Gedächtnis. Vom Ende der Ressourcen, so wie wir sie kennen, Baden-Baden: Nomos, S. 72.
  9. vgl. Alberto Acosta (2016): Buen Vivir. Vom Recht auf ein gutes Leben. München: oekom verlag, S. 90 f..
  10. vgl. Raúl Zibechi (2015): Das Buen Vivir als die „andere mögliche Welt": Widersprüche, Grenzen und Möglichkeiten ded Konzepts im Nationalstaat. In: Julia Roth (Hrsg.): Lateinamerikas koloniales Gedächtnis. Vom Ende der Ressourcen, so wie wir sie kennen, Baden-Baden: Nomos, S. 78.
  11. Raúl Zibechi (2015): Das Buen Vivir als die „andere mögliche Welt": Widersprüche, Grenzen und Möglichkeiten ded Konzepts im Nationalstaat. In: Julia Roth (Hrsg.): Lateinamerikas koloniales Gedächtnis. Vom Ende der Ressourcen, so wie wir sie kennen, Baden-Baden: Nomos, S. 79.



Autor*innen

Erstfassung: Amelie Streitz am 01.April.2022. Den genauen Verlauf aller Bearbeitungsschritte können Sie der Versionsgeschichte des Artikels entnehmen; mögliche inhaltliche Diskussionen sind auf der [[Diskussion:Benutzer:Amelie Streitz/Werkstatt|Diskussionsseite]] einsehbar.

Zitiervorlage:
Streitz, Amelie (2022): Werkstatt. In: Böhm, Felix; Böhnert, Martin; Reszke, Paul (Hrsg.): Climate Thinking – Ein Living Handbook. Kassel: Universität Kassel. URL=https://wiki.climate-thinking.de/index.php?title=Benutzer:Amelie Streitz/Werkstatt, zuletzt abgerufen am 16.11.2024.