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Die Gaia-Hypothese

Auf dieser Seite werden die Grundzüge der Gaia-Hypothese umrissen.

Was ist die Gaia-Hypothese?

Im Kern der Gaia-Hypothese steht die Annahme der Existenz einer komplexen, sich selbsterhaltenden Entität, welche im Zusammenspiel der Biosphäre, Atmosphäre, Ozeane und Böden besteht, und Gaia genannt wird[1]. Gaia wird häufig als ein lebendiger Superorganismus (d.h. viele voneinander abhängige Einzelorganismen, die eine selbstregulierende Einheit bilden[2]) oder als ein kybernetisches System konzeptualisiert, welches die Eigenschaft besitzt, sich bei verändernden Bedingungen optimal auf einen bestimmten Zielzustand zuzubewegen[3].

Als Begründer der Gaia-Hypothese gilt der Wissenschaftler, Autor, Erfinder und Umweltschützer James Lovelock. Er entwickelte die Gaia-Hypothese in den 1970er Jahren in Anlehnung an die Beobachtung, dass das Klima der Erde seit dem Entstehen irdischen Lebens (vor ca. 3500 Mio. Jahren) relativ stabil gewesen ist, obwohl sich im gleichen Zeitraum abiologische Faktoren wie die Sonneneinstrahlung, die Oberflächenmerkmale der Erde sowie die Zusammensetzung der Atmosphäre höchstwahrscheinlich stark gewandelt haben. Dieses scheinbare Paradoxon ließ darauf schließen, dass neben abiologischen Faktoren auch biologische Faktoren (d.h. das Leben selbst) das Klima in der Art regulierten, dass weiterhin die Voraussetzungen für Leben auf der Erde gegeben waren[4].

Der Name „Gaia“ wird entlehnt aus der griechischen Mythologie, in der Gaia die personifizierte Erde beziehungsweise die Göttin der Erde beschreibt. Lovelock warnt jedoch davor, Gaia aufgrund des Namens fälschlicherweise als ein fühlendes, oder gar bewusstes Wesen zu konzeptualisieren[5]. Der Name solle stattdessen ausdrücken, dass das beschriebene komplexe Zusammenspiel aus Bio- und Ökosphäre eine zusammengesetzte, emergente Identität („composite identity“) bildet, welche mehr als nur die Summe ihrer Teile darstellt[6]. Zudem vergleicht Lovelock das Verhältnis zwischen Gaia und der Biosphäre mit dem Verhältnis zwischen einer Person und ihrem Körper – Gaia sei ein „Superorganismus“[7], der nicht allein durch seine physischen Bestandteile gefasst werden könne.

Wie reguliert sich Gaia?

Der Forschungsbereich der Kybernetik beschäftigt sich mit selbstregulierenden Kommunikations- und Kontrollsystemen in Lebewesen oder Maschinen[8]. Neben dem Menschen kann auch Gaia als ein solches adaptives System betrachtet werden, welches in der Lage ist, Informationen zu sammeln und zu speichern[9]. Gaias Regulationsprozesse werden oft formal als kybernetische Prozesse dargestellt. Dabei existiert ein Zielzustand (z.B. Erdtemperatur), auf welchen Gaia sich kontinuierlich mittels Feedbacks zubewegt bzw. den sie erhält. Dieses Erhalten eines Zielzustands wird gemeinhin als Homöostase bezeichnet[10]. In neueren Arbeiten wird teils von Homöorhese gesprochen, um herauszustellen, dass es sich bei diesem Zielzustand weniger um einen Fixpunkt, sondern vielmehr um ein sich langsam veränderndes Gleichgewicht handelt[11]. So wird dem Einwand Rechnung getragen, dass das Erdsystem sich durchaus ständig verändert, indem beispielsweise Arten verschwinden und neu entstehen. Global gesehen benötigen die Regulationsprozesse, die für das Aufrechterhalten der Homöorhese notwendig sind, sehr viel Zeit[12].

Die Atmosphäre

Ein gängiges Beispiel, an dem Gaias Regulationsmechanismen sichtbar werden, ist die Zusammensetzung der Atmosphäre. Diese wandelte sich zwar im Laufe der Erdgeschichte, ermöglichte allerdings seit ca. 3500 Millionen Jahren Leben auf der Erde[13]. Darüber hinaus befindet sich die Atmosphärenzusammensetzung nicht in einem chemischen Gleichgewicht, sondern die höchst ungewöhnliche Kombination hochreaktiver Gase kann nur dadurch erklärt werden, dass ständige Regulationsprozesse sie erhalten[14].

Heutzutage besteht die Luft der Atmosphäre vor allem aus Stickstoff und Sauerstoff, sowie aus kleinen Anteilen anderer Gase. Erst die Anwesenheit von Sauerstoff in der Luft machte die Existenz von „höheren“ Lebensformen, inklusive des Menschen, möglich; gäbe es hingegen zu viel Sauerstoff in der Luft, würde es zu ständigen Bränden kommen[15]. Daraus ergibt sich ein Korridor, in dem sich der Sauerstoffgehalt der Luft optimalerweise bewegen muss, um das Erdsystem und das Leben auf der Erde in seiner jetzigen Form zu erhalten. Ähnliche Korridore existieren für die anderen Gase in der Atmosphäre, welche unterschiedlichste Funktionen erfüllen.

Es erscheint möglicherweise offenkundig, dass Lebewesen einen Einfluss auf den Sauerstoffgehalt der Atmosphäre haben: Tiere (und Pflanzen) atmen Sauerstoff ein, Pflanzen sind darüber hinaus in der Lage, mithilfe von Fotosynthese Sauerstoff zu produzieren. Damit kennen die meisten Menschen bereits einen wichtigen Regulationsprozess Gaias. Doch Gaia hält weitere Regulationsmechanismen bereit. So wurde beispielsweise gezeigt, dass die Gase Methan und Lachgas ebenfalls eine Rolle bei der Regulation von Sauerstoff spielen[16]. Die Produktion von Methan und Lachgas wiederum geschieht durch Bakterien und Mikroorganismen in Schlamm und Sedimenten im Meeresboden, in Sümpfen und Feuchtgebieten[17]. Diese Teile Gaias scheinen von besonderer Bedeutung für Gaias Regulationsfähigkeit sein.

Die Ozeane

Ein weiteres Beispiel für Gaias Regulationsmechanismen ist die Konstanthaltung des Salzgehalts der Ozeane. Auch hier eröffnet sich das scheinbare Paradoxon, dass sich trotz schwankender abiologischer Faktoren (z.B. Meeresspiegelveränderungen, Schmelzen und Gefrieren von Eis) der Salzgehalt der Meere konstant in gerade jenem Bereich befunden hat, welcher das Überleben von Meereslebewesen ermöglichte[18]. Dies ist besonders überraschend, wenn berücksichtigt wird, dass Flüsse und Regen kontinuierlich kleine Mengen von Salz ins Meer spülen, was eigentlich eine Zunahme des Salzgehalts zur Folge haben müsste[19]. Was passiert also mit dem überschüssigen und mitunter lebensbedrohlichen Salz?

Eine zentrale Rolle bei der Regulation des Salzgehalts spielen Kieselalgen[20]. Diese Algen besitzen ein Skelett aus Kieseln, welches sie aus dem Salz der Meere herstellen. Das Salz wird in den Skeletten gebunden und sinkt nach dem Tod der Alge auf den Meeresboden, wo sich infolgedessen Sedimente bilden[21]. Nicht nur das Binden des Salzes selbst, sondern auch die Anlagerung am Meeresboden spielen möglicherweise eine Rolle bei der Salzregulation. So begünstigt der Druck auf den Meeresboden vulkanische Aktivitäten und die Bildung von Lagunen und, in denen zusätzlich große Mengen Salz angespült werden[22]. Lovelock schlussfolgert, dass die Ozeane als Ganzes, und insbesondere die Kontinentalschelfe, d.h. jene flachen Bereiche in der Nähe der Küsten, von großer Bedeutung für die Regulationsfähigkeit Gaias sind.

Was bleibt von der Gaia-Hypothese?

Bereits im 18. Jahrhundert gab es erste Ideen dazu, dass es sich bei der Erde um eine Art lebendigen Superorganismus handeln könnte; diese wurden jedoch seit der Aufklärung als unwissenschaftlich oder romantisierend abgetan[23]. Auch die Gaia-Hypothese wurde nach ihrer Entwicklung in den 1970er Jahren von esoterischen und religiösen Gruppen vereinnahmt[24]. Kritik an der Idee eines Gaia’schen Superorganismus ist nicht vollends unbegründet, da bis heute ungeklärt ist, welche Selektionskraft zur Entstehung eines solchen Superorganismus führen solle[25].

Naturwissenschaftler*innen warfen Lovelock zudem vor, dass die von ihm beschriebene Selbstregulation absichtsvoll oder zielgerichtet sein müsse. Diese teleologische Annahme sei wiederum unwissenschaftlich[26]. Lovelock und seine Unterstützer*innen wehrten sich gegen diesen Vorwurf und betonten stets, dass keinesfalls angenommen werden solle, dass die Selbstregulationsmechanismen bewusst oder zielgerichtet seien[27]. Ein Grund für den Vorwurf könnte die von Lovelock genutzte Kybernetik-Analogie sein, die von „Zielzuständen“ spricht. Es bleibt dabei unklar, wie und durch wen dieser definiert wird. Eine sehr unkonkrete Antwort würde lauten: Das Ziel besteht darin, gewisse Parameter in jenem Korridor zu bewahren, der Leben auf der Erde ermöglicht, und alle organischen und nichtorganischen Teile der Erde sind daran beteiligt.

Trotz aller Kritik haben die modernen Naturwissenschaften heute große Teile der Gaia-Hypothese akzeptiert, grenzen sich jedoch oftmals vom Namen „Gaia“ ab und sprechen stattdessen von Umweltsystemwissenschaften oder Geophysiologie[28]. Trotzdem könnte der Einfluss der Gaia-Hypothese auf das Weltbild und die Methodik der Klimaforschung kaum größer sein. Nachdem lange Zeit das oberste Ziel der Naturwissenschaften war, alles in möglichst kleine Einzelteile zu zerlegen, um diese zu verstehen, ist das Ziel heutiger Klimaforschung, das große Ganze, das Gesamtsystem Erde, zu verstehen[29].

Ein weitreichendes Beispiel für derartige Forschung ist die Arbeit des Intergovernmental Panel on Climate Change (“Zwischenstaatlicher Ausschuss für Klimaänderungen“, IPCC). Der IPCC wurde 1988 von den Vereinigten Nationen (UN) ins Leben gerufen, um den aktuellen Stand des Klimawandels sowie die Wirksamkeit möglicher Klimaschutzmaßnahmen zu beforschen. Zum Kern der Methodik des IPCC gehört es, hochgradig komplexe Computermodelle zu kreieren, welche das Erdsystem abbilden sollen[30]. Anhand dieser Modelle wird berechnet, wie sich bestimmte Einflussfaktoren auf den Klimawandel auswirken und inwiefern Maßnahmen zum Klimaschutz den Klimawandel verringern können[31]. Das simultane Berücksichtigen einer Vielzahl an Faktoren und derer Interaktionen scheint genau im Einklang zu sein mit den Zielen der Gaia-Hypothese.




Umweltethik vor dem Hintergrund der Gaia-Hypothese

Auf dieser Seite erfahren Sie, welche Implikationen die Gaia-Hypothese für die Umweltethik und das Mensch-Natur-Verhältnis haben könnte.

Gaia und Umweltethik

Welchen Problemen steht Gaia gegenüber?

Wir leben im Zeitalter des Anthropozäns. Dieses zeichnet sich dadurch aus, dass der Mensch fundamentale Änderungen im Erdsystem vornimmt und sich dessen bewusst ist[32]). Dazu zählen neben vielen anderen die anthropogene Veränderung zentraler chemischer Kreisläufe (z.B. Kohlenstoff-, Stickstoff-, Schwefelkreislauf), die anthropogene Veränderung der Zusammensetzung der Atmosphäre (z.B. Anstieg der CO2-Konzentration durch die Nutzung fossiler Brennstoffe) und der daraus resultierende Temperaturanstieg[33]. Die plötzliche Veränderung dieser Parameter ist ein ernstzunehmendes Ausnahmeereignis, nachdem diese für Jahrmillionen relativ stabil gewesen waren. Zwar verfügt Gaia über zahlreiche Regulationsmechanismen, jedoch funktionieren diese nur extrem langsam im Vergleich zu den starken Eingriffen des Menschen und können die Entwicklung kurzfristig nicht aufhalten[34].

Dies könnte zum Verhängnis des Menschen werden, da dieser seine eigene Lebensgrundlage zerstört. Dies allein scheint bereits eine ausreichende Begründung zu sein, den Klimawandel verhindern zu wollen. In der Umweltethik beschreibt dies die anthropozentrische Position, nach der die Umwelt in Ansehung des Menschen geschützt werden soll[35][36]. Dazu zählt neben ethischen Verpflichtungen gegenüber aktuell lebenden Menschen auch die Verantwortung gegenüber zukünftigen Generationen von Menschen.

Darüber hinaus besteht zusätzlich die Gefahr, dass der Mensch Gaias Regulationsmechanismen so sehr aus dem Gleichgewicht bringt, dass sie ihre Regulations- bzw. Anpassungsfähigkeit unwiederbringlich verliert. Lovelock schätzte diese Wahrscheinlichkeit Ende der 1970er Jahre als sehr gering ein[37], jedoch ist auch dieses Szenario nicht unmöglich. Dies würde wiederum zur Folge haben, dass nicht nur der Mensch, sondern die Existenz des gesamten Lebens auf der Erde gefährdet wäre.

Derzeit wird in der Umweltethik ausgehandelt, ob auch andere Entitäten (wie Tiere oder alle Lebewesen) direkt ethisch berücksichtigt werden sollen. Holistische bzw. ökozentrische Strömungen möchten sogar ganze Ökosysteme ethisch zu berücksichtigen, wozu auch Gaia zählen könnte. Dabei kann es zum ethischen Problem werden, dass es den übrigen Lebewesen auf der Erde nach dem Ableben der Menschheit möglicherweise besser gehen würde, wie Paul W. Taylor treffend beschreibt[38]. Infolgedessen würde sich die Frage stellen, ob im Sinne der Gemeinschaft des Lebenden (und Gaias) der Mensch vernachlässigt werden sollte. Aufgrund dieser argumentativen Schwierigkeiten präferieren die meisten eine anthropozentrische Umweltethik, der zufolge die Verantwortung des Menschen zum Umwelt- und Klimaschutz aus der Verantwortung gegenüber anderen Menschen erwächst.

Zusammenfassend kann gesagt werden, dass der Mensch seine Umwelt bzw. Gaia schützen sollte, da die Gaia’schen Regulationsmechanismen mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht in der Lage sein werden, die schwerwiegenden Eingriffe des Menschen rechtzeitig zu regulieren, bevor diese das Überleben der Menschheit unmöglich machen werden. Darüber hinaus können biozentrische oder holistische Argumente herangezogen werden.

Handlungsempfehlungen im Lichte der Gaia-Hypothese

Im Folgenden wird die Frage erörtert, welche konkreten umweltethischen Handlungsempfehlungen aus der Gaia-Hypothese abgeleitet werden können. Lovelock (2016) nannte dazu neben dem Schutz der zentralen Regionen Gaias die weitere Erforschung des Erdsystems sowie das Wahren von Vorsicht, wann immer nicht genügend Wissen über die Folgen unseres Handelns zur Verfügung steht. Zu diesem Vorgehen gehört zuallererst, anzuerkennen, was wir wissen und was wir nicht wissen, dementsprechend unser Handeln gegenüber Gaia auszurichten, und bestenfalls den relativen Anteil dessen, was wir wissen, zu vergrößern.

Umweltforschung

Möglicherweise war für Lovelock die weitere Erforschung des Erdsystems das wichtigste Ziel, schließlich widmete er ihr sein Leben. Dabei war es seine Vision, viele globale Perspektiven zusammenzubringen und interdisziplinär zusammenzuarbeiten. Thematisch hielt er die Erforschung des Ozeans und der regulatorischen Mechanismen der Erde für besonders wichtig (Lovelock, 2016, S. 99). Die Forschung des IPCC begibt sich gewissermaßen auf seine Spuren, indem er versucht, das Erdsystem in seiner Komplexität mit Hilfe von Computermodellen zu verstehen.

Umweltschutz

Einige Gebiete, die Lovelock als zentrale Bestandteile Gaias ansieht, sind die Ozeane, insbesondere deren Kontintentalschelfe, des Weiteren Sümpfe, Feuchtgebiete und tropische Gebiete (Lovelock, 2016, S. 113 f.). Diese spielen in seinen Augen eine besondere Rolle in der Regulation des Klimas und der atmosphärischen Zusammensetzung und sollten besonders geschützt werden. Einige dieser Gebiete sind laut IPCC (2022) bereits stark oder ggf. sogar irreversibel beschädigt, so beispielsweise die Küsten und Ozeane durch eine Versauerung der Meere, einen Meeresspiegelanstieg und das Absterben von Korallenriffen durch Hitze. Ebenso stehen einige küstennahe Feuchtgebiete und Regenwälder aktuell bereits mit hoher Wahrscheinlichkeit an den Grenzen ihrer Anpassungsfähigkeit (IPCC, 2022).

Darüber hinaus fürchtet der IPCC (2022) in Zukunft um eine generelle Verschlechterung der Struktur, Funktionen, Resilienz und Anpassungsfähigkeit von Ökosystemen. Resilienz meint dabei die „Widerstandsfähigkeit“ eines Ökosystems, also die Fähigkeit, seine grundlegende Stabilität und Organisationsweise trotz (äußerer) Störungen erhalten zu können, ohne in einen qualitativ anderen Systemzustand überzugehen. Dieser Befund kann aus einer Gaia’schen Betrachtungsweise heraus als besonders einschneidend und beunruhigend bewertet werden, da es sich um Anzeichen eines Verlusts der Regulationsmechanismen Gaias selbst handeln könnte. Lenton und Latour (2018) benannten darüber hinaus den Erhalt der Biodiversität als wichtiges Mittel zur Unterstützung der Selbstregulationsfähigkeit Gaias. Leider sagt der IPCC (2022) ebenso einen Verlust der Biodiversität mit mittlerer bis hoher Wahrscheinlichkeit (je nach Ökosystemtyp) vorher. Der Bund für Umwelt- und Naturschutz Deutschland (BUND) benennt die aktuelle Biodiversitätskrise neben dem Klimawandel als zweite große Krise unserer Zeit (BUND Baden-Württemberg, 2021).

Zusammengenommen ergibt sich, dass die Biodiversität sowie die Beschaffenheit bestimmter Ökosysteme (Ozeane, Tropen, Feuchtgebiete), die wichtige Voraussetzungen für das Funktionieren der Regulations- und Erhaltungsprozesse Gaias darstellen, bereits starken Schaden genommen haben und dies in Zukunft mit hoher Wahrscheinlichkeit weiterhin tun werden. Es lässt sich ableiten, dass der Schutz von Biodiversität, der Erhalt der Resilienz von Ökosystemen, sowie der Schutz und die Wiederherstellung von Ökosystemen wichtige Teile von Umweltschutz darstellen (IPCC, 2022). Dabei hält Lovelock es durchaus für sinnvoll, intelligent angewandte Technologie zu nutzen, um diese Ziele zu erreichen (Lovelock, 2016, S. 114).

Vorsicht

Trotz dieser teils sehr negativen Aussichten hält Lovelock Panik für eine wenig angemessene oder hilfreiche Reaktion. Trotzdem rät er zur Vorsicht bzw. Zurückhaltung, wann immer Wissen und Forschung fehlen (Lovelock, 2016, S. 109, 122). An dieser Stelle lässt sich eine Brücke zum deutschen Philosophen und Umweltethiker Hans Jonas schlagen. Dieser beschrieb eine Kluft zwischen der immer größer werdenden Macht des Menschen (in Form von Eingriffen in die Natur mittels moderner Technologien) und dessen weniger schnell expandierenden Wissens (Jonas, 1997, S. 167). Unter diesen Umständen schloss Jonas (1979) zum einen, dass „(…) Wissen zu einer vordringlichen Pflicht über alles hinaus (…)“ (Jonas, 1979, S. 28) werden müsse, und zum anderen, dass die Größe unserer Macht eine „neue Art von Demut“ und einhergehende „verantwortliche Zurückhaltung“ (Jonas, 1979, S. 55) verlange. Diese Schlussfolgerungen sind deckungsgleich mit den Forderungen Lovelocks nach intensiver Forschung und Vorsicht.

„Wenn denn also die neuartige Natur unseres Handelns eine neue Ethik weittragender Verantwortlichkeit verlangt, kommensurabel mit der Tragweite unserer Macht, dann verlangt sie im Namen eben jener Verantwortlichkeit auch eine neue Art von Demut – eine Demut nicht wie frühere wegen der Kleinheit, sondern wegen der exzessiven Größe unserer Macht, die ein Exzeß unserer Macht zu tun über unsere Macht vorherzusagen und über unsere Macht zu werten und zu urteilen ist. Angesichts des quasi-eschatologischen Potentials unserer technischen Prozesse wird Unwissen über die letzten Folgen selber ein Grund für verantwortliche Zurückhaltung – als das zweitbeste nach dem Besitz von Weisheit selbst.“ (Jonas, 1979, S. 55)

Gaia und der Mensch

Eine zentrale Frage der Naturphilosophie ist es, was „die Natur“ eigentlich ist und in welchem Verhältnis wir Menschen zu ihr stehen. Schenkt man der Gaia-Hypothese Beachtung, so findet möglicherweise eine Verschiebung in der Beziehung zwischen Mensch und Natur statt.

Ein Teil Gaias sein

Die Gaia-Hypothese porträtiert die Natur als intelligent anmutende, hochkomplexe Entität, die immer wieder neue Wege findet, sich selbst zu erhalten. Sie kann nicht durch ihre Bestandteile definiert werden, da ihr Wesen gerade in einer ständigen Dynamik und Veränderung besteht. Diese Merkmale muten mächtig an. Der Mensch ist in diesem Gesamtgefüge hingegen nur ein kleiner Teil. Zwar wirken sich seine Handlungen im Anthropozän-Zeitalter stark auf die Natur aus, allerdings entkommt er trotzdem nie vollständig aus seinem Abhängigkeitsverhältnis zur ihr.

Lovelock (2016, S. 106) räumt die Möglichkeit ein, dass Menschen sowie Tiere und Pflanzen wichtige Spezialfunktionen innerhalb Gaias erfüllen; die wirklich bedeutsamen Teile in den Regulationsmechanismen Gaias sind jedoch Mikroorganismen. Ergo macht die Gaia-Hypothese deutlich, dass der Mensch keineswegs das wichtigste Lebewesen der Erde ist und stellt damit eine historische Hierarchie in Frage, in der der Mensch als „Krone der Schöpfung“ galt. Es ist noch eine weiterführende Deutung der Teil-Ganzes-Sichtweise denkbar, in der sich der strikte Dualismus zwischen Mensch und Natur auflösen lässt: Der Mensch ist Teil der Natur und nichts Abgetrenntes oder elementar Gegensätzliches davon. Möglicherweise kann auch die strikte dualistische Trennung zwischen Organischem und Anorganischem, die bereits von Aristoteles postuliert wurde (Ingensiep, 1999), durch die Gaia-Hypothese überwunden werden. Die Gaia-Hypothese zeichnet eine Welt, in der Organisches und Anorganisches eng verbunden sind und sich gegenseitig beeinflussen – erst durch den Einbezug organischer Faktoren kann die Regulation anorganischer Faktoren erklärt werden. Die strenge Trennung zwischen beiden Sphären wird in Frage gestellt (Podbregar, 2013).

Ein Teil von etwas zu sein, kann darüber hinaus bedeuten, an der Erhaltung eines Ganzen beteiligt zu sein. So wie jede:r Musiker:in einer Band einen Teil zum Musikstück beiträgt und in diesem Sinne für das Gelingen des Stücks verantwortlich ist, ist auch der Mensch als Teil Gaias für ihr Gedeihen verantwortlich. Wenn der Mensch auch nicht an den zentralen Regulationsmechanismen Gaias beteiligt sein mag, so wirkt sich sein Verhalten dennoch unweigerlich auf sie aus. Wie bereits oben erörtert, nehmen die bewussten Eingriffe des Menschen in die Natur stetig zu (Lenton & Latour, 2018; Jonas, 1997). Während Gaias bisherige Funktionsweise völlig unbewusst war, katapultiert das absichtsvolle, bewusste Eingreifen des Menschen in die Natur Gaia laut Lenton und Latour (2018) in einen neuen Zustand: Gaia 2.0. Es ist denkbar, dass sich in diesem Zustand das Abhängigkeitsverhältnis zwischen Mensch und Natur zwar nicht umkehrt, es jedoch erweitert wird in Form einer gegenseitigen Abhängigkeit. Gaias Gedeihen hängt von uns ab – wir sind in diesem Sinne dafür verantwortlich. Jonas verlangt aus gutem Grund eine Verantwortlichkeit, die „kommensurabel mit der Tragweite unserer Macht“ ist (Jonas, 1979, S. 55).

Von Gaia lernen

Das Wissen um Gaia und ihre Funktionsweisen kann dem Menschen zudem wichtige Hinweise dazu liefern, wie wir unser Verhalten gegenüber der Natur nachhaltig gestalten können. In anderen Worten: Wir können von ihr lernen. In dem Moment, in dem wir realisieren, dass es sich bei Gaias Regulationsprozessen um hochgradig „intelligente“ Mechanismen handelt, die (im kybernetischen Sinne) zielgerichtet einen Sinn und Zweck erfüllen, lösen wir uns von einer traditionellen „pessimistischen Sichtweise, die die Natur als primitive Kraft sieht, die es zu unterwerfen und zu erobern gilt“ (Lovelock, 2016, S. 11). Stattdessen können wir ihre Komplexität und Anpassungsfähigkeit wertschätzen und davon lernen. Es entstünde vielleicht eher ein „Miteinander“ und weniger ein „Gegeneinander“. Wenn wir uns an Gaias Mechanismen orientieren, uns ein Beispiel an diesen nehmen, wäre es vielleicht möglich, Kreisläufe zu erschaffen, die in der Lage sind, das menschliche Leben auf der Erde zu erhalten (Lenton & Latour, 2018). Dies könnte zum Beispiel in Form einer Kreislaufwirtschaft passieren, in der Rohstoffkreisläufe durch vollständiges Recycling geschlossen werden (Lenton & Latour, 2018). So etwas wie „Abfall“ oder „Müll“ gäbe es in einer Gaia’schen Sichtweise nicht – es kommt ausschließlich auf die Perspektive an.

Belege

  1. Lovelock, James (2016): Gaia - A New Look at Life on Earth. Oxford: Oxford University Press.
  2. Spektrum Akademischer Verlag (1999): Superganismus. In: Lexikon der Biologie. Online, zuletzt abgerufen am 17.10.2023.
  3. Lovelock, James (2016): Gaia - A New Look at Life on Earth. Oxford: Oxford University Press, S. 10.
  4. Lovelock, James (2016): Gaia - A New Look at Life on Earth. Oxford: Oxford University Press, S. 9.
  5. Lovelock, James (2016): Gaia - A New Look at Life on Earth. Oxford: Oxford University Press, S. XVI.
  6. Lovelock, James (2016): Gaia - A New Look at Life on Earth. Oxford: Oxford University Press, S. XVI.
  7. Lovelock, James (2016): Gaia - A New Look at Life on Earth. Oxford: Oxford University Press, S. XVIIf..
  8. Lovelock, James (2016): Gaia - A New Look at Life on Earth. Oxford: Oxford University Press, S. 44.
  9. Lovelock, James (2016): Gaia - A New Look at Life on Earth. Oxford: Oxford University Press, S. 57.
  10. Lovelock, James (2016): Gaia - A New Look at Life on Earth. Oxford: Oxford University Press, S. 10.
  11. Franck, Siegfried (2002): Die Gaia-Hypothese im Lichte der Erdsystemforschung. In: GAIA - Ecological Perspektiven for Science and Society 11(1), S. 21-24. Online, zuletzt abgerufen am .
  12. Lovelock, James (2016): Gaia - A New Look at Life on Earth. Oxford: Oxford University Press, S. 119.
  13. Lovelock, James (2016): Gaia - A New Look at Life on Earth. Oxford: Oxford University Press, S. 9.
  14. Podbregar, Nadja (2013): Organismus Erde? Von der Gaia-Hypothese zum System Erde. In: Nadja Podbregar & Dieter Lohmann (Hrsg.): Im Fokus: Geowissen, Berlin, Heidelberg: Springer Spektrum, S. 153-160.
  15. Lovelock, James (2016): Gaia - A New Look at Life on Earth. Oxford: Oxford University Press, S. 65.
  16. Lovelock, James (2016): Gaia - A New Look at Life on Earth. Oxford: Oxford University Press, S. 68, 71.
  17. Lovelock, James (2016): Gaia - A New Look at Life on Earth. Oxford: Oxford University Press, S. 67.
  18. Lovelock, James (2016): Gaia - A New Look at Life on Earth. Oxford: Oxford University Press, S. 79, 85.
  19. Lovelock, James (2016): Gaia - A New Look at Life on Earth. Oxford: Oxford University Press, S. 80.
  20. Lovelock, James (2016): Gaia - A New Look at Life on Earth. Oxford: Oxford University Press, S. 88.
  21. Lovelock, James (2016): Gaia - A New Look at Life on Earth. Oxford: Oxford University Press, S. 88.
  22. Lovelock, James (2016): Gaia - A New Look at Life on Earth. Oxford: Oxford University Press, S. 92.
  23. Podbregar, Nadja (2013): Organismus Erde? Von der Gaia-Hypothese zum System Erde. In: Nadja Podbregar & Dieter Lohmann (Hrsg.): Im Fokus: Geowissen, Berlin, Heidelberg: Springer Spektrum, S. 153-160.
  24. Podbregar, Nadja (2013): Organismus Erde? Von der Gaia-Hypothese zum System Erde. In: Nadja Podbregar & Dieter Lohmann (Hrsg.): Im Fokus: Geowissen, Berlin, Heidelberg: Springer Spektrum, S. 153-160.
  25. Spektrum Akademischer Verlag (1999): Superganismus. In: Lexikon der Biologie. Online, zuletzt abgerufen am 17.10.2023.
  26. Podbregar, Nadja (2013): Organismus Erde? Von der Gaia-Hypothese zum System Erde. In: Nadja Podbregar & Dieter Lohmann (Hrsg.): Im Fokus: Geowissen, Berlin, Heidelberg: Springer Spektrum, S. 153-160.
  27. Podbregar, Nadja (2013): Organismus Erde? Von der Gaia-Hypothese zum System Erde. In: Nadja Podbregar & Dieter Lohmann (Hrsg.): Im Fokus: Geowissen, Berlin, Heidelberg: Springer Spektrum, S. 153-160.
  28. Lovelock, James (2016): Gaia - A New Look at Life on Earth. Oxford: Oxford University Press, S. XIX.
  29. Podbregar, Nadja (2013): Organismus Erde? Von der Gaia-Hypothese zum System Erde. In: Nadja Podbregar & Dieter Lohmann (Hrsg.): Im Fokus: Geowissen, Berlin, Heidelberg: Springer Spektrum, S. 153-160.
  30. IPCC (2022): Climate Change 2022: Impacts, Adaptation, and Vulnerability. Contribution of Working Group II to the Sixth Assessment Report of the Intergovernmental Panel on Climate. Summary for Policymakers. Cambridge: Cambridge University Press.
  31. IPCC (2022): Climate Change 2022: Impacts, Adaptation, and Vulnerability. Contribution of Working Group II to the Sixth Assessment Report of the Intergovernmental Panel on Climate. Summary for Policymakers. Cambridge: Cambridge University Press.
  32. Lenton, Timothy M. & Latour, Bruno (2018): Gaia 2.0. In: Science 361(6407), S. 1066-1068. Online, zuletzt abgerufen am .
  33. Lovelock, James (2016): Gaia - A New Look at Life on Earth. Oxford: Oxford University Press, S. 75, 106, 113.
  34. Lovelock, James (2016): Gaia - A New Look at Life on Earth. Oxford: Oxford University Press, S. 120.
  35. Birnbacher, Dieter (2011): Natur und Umwelt schützen – vor dem Menschen oder für den Menschen?. In: Johann S. Ach, Kurt Bayertz & Ludwig Siep (Hrsg.): Grundkurs Ethik - Band II: Anwendungen, Paderborn: mentis, S. 67-80.
  36. Ott, Konrad, Dierks, Jan & Voget-Kleschin, Lieske (2016): Einleitung. In: Konrad Ott, Jan Dierks & Lieske Voget-Kleschin (Hrsg.): Handbuch Umweltethik, Stuttgart: J. B. Metzler, S. 1-19.
  37. Lovelock, James (2016): Gaia - A New Look at Life on Earth. Oxford: Oxford University Press, S. 101.
  38. Taylor, Paul W. (1997): Die Ethik der Achtung für die Natur. In: Dieter Birnbacher (Hrsg.): Ökophilosophie, Stuttgart: Reclam, S. 77-116.