Benutzer: Valentina Roether/Werkstatt

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Dieser Beitrag ist kein inhaltlicher Bestandteil des Living Handbooks, sondern die persönliche Werkstatt-Seite von Nutzer*in Valentina Roether. Bitte nehmen Sie keine Änderungen an dieser Seite vor, ohne dies zuvor mit Valentina Roether abgesprochen zu haben.
Rauch über San Francisco

Eine jugendliche Person steht vor einer hellen Wand, schaut mit ernstem Gesichtsausdruck in die Kamera und hält in den Händen ein Stück Pappe mit der Aufschrift „SOS ¡ACCIÓN CLIMÁTI-CA YA!“ Was soll das bedeuten?

Die Klimakrise treibt viele Menschen auf die Straßen, um gegen die Politik und deren Un-/Tätigkeit zu protestieren. Der wichtigste Kommunikationskanal für Aktivist*innen sind Pro-testschilder, oft aus Pappe oder Stoff, mit einer kurzen, handgeschriebenen Botschaft. Sie enthalten in prägnanter Weise die Forderungen und Argumentationen der Bewegungen und werben um Aufmerksamkeit und Unterstützung. Schon die Umweltbewegungen in den 1970er Jahren nutzten sie. Vielleicht erinnern Sie sich an den Slogan „Atomkraft - Nein danke“ mit einer lächelnden Sonne in der Mitte? Oft sind es gerade kurze und prägnante Kombinationen aus Sprache und Bild, die über die Zeit erhalten bleiben und politische Bewegungen prägen.

Aus linguistischer Perspektive sind diese Protestschilder Texte, auch wenn sie kurz sind und Bilder enthalten. Sie sind Teil des Sprechens über Klimawandel und dienen deshalb als sprachwissenschaftlicher Zugang zum Klimadiskurs. Schließlich hat das wohl berühmteste Protestplakat der Menschheit drei schwedische Wörter beigebracht: Skolstrejk för klimatet (Thunberg 2018). Aber wie verdichtet man einen ganzen Diskurs mit seinen Begriffen und Argumenten auf wenige Zeichen, um ein Schild zu gestalten?

Der folgende Beitrag untersucht, wie spanischsprachige Aktivist*innen der Fridays for Future-Bewegung umweltpolitische Missstände und Forderungen kommunizieren. Mithilfe welcher Schlagwörter und Bilder kondensieren sie politische Debatten auf Plakatlänge? Die Korpusanalyse bezieht dabei auch die Kommunikationswege der Protestschilder mit ein, die neben der offline Demonstration auch online verbreitet werden.


Das linguistische Handwerkszeug: Schlagwörter und Multimodalität

Protestbewegungen verfolgen hauptsächlich ein Ziel: Sie wollen Aufmerksamkeit erregen, um auf Missstände hinzuweisen. Gerade auf einem Plakat soll auf einen Blick erfasst werden können, worum es geht (Rucht 2019: 4). Es kann keine ausführliche Argumentation erfolgen:

§§Zitat Das Ideal der prägnanten Kürze ergibt sich bei Slogans und Schlagwörtern aus deren (pragmatischen) Funktionen. Beide Arten sprachlicher Einheiten sollen stets ein jeweils relevantes Wissen (Vorstellungen) und zugleich ein jeweils ganz bestimmtes Wollen (Einstellungen) einerseits ausdrücken, andererseits evozieren, beides möglichst ökonomisch. (Niehr 2007: 459)

In Anlehnung an Fritz Hermanns (1989) sind Schlagwörter nicht zu verwechseln mit häufig verwendeten Wörtern. Es handelt sich stattdessen um Wörter, die mehr als ihre grundlegen-de semantische Bedeutung transportieren.

§§Zitat Mit diesem Begriff ist also diejenige Bedeutung oder Bedeutungskomponente von Wörtern oder Wendungen gemeint, kraft derer Wort oder Wendung bedeutet oder mitbedeutet, daß wir, in Bezug auf einen Gegenstand, etwas nicht dürfen, dürfen oder sollen. (Hermanns 1989: 74)

Die Wahl eines Schlagwortes gibt den Leser*innen also eine Richtung und Begründung für die Bedeutungskonstitution vor. „In textsemantischen Analysen spielen sie vor allem dort eine Rolle, wo in Texten argumentiert, gestritten und appelliert wird“ (Gardt 2012: 68) – wie auf Protestplakaten. Schlagwörter haben eine so genannte deontische Aufladung, die von Fritz Hermanns (1989: 74ff.) als Sollens-Bedeutung beschrieben wurde. Der Begriff selbst beinhaltet also schon eine Wertung oder Aufforderung, dass etwas getan werden soll. Beispielsweise "Unkraut" soll vernichtet oder "Freiheit" verteidigt werden.

Zur Analyse von Protestpalakten sind neben sprachlichen Zeichen auch andere Zeichensysteme relevant. Multimodalität [§§LINK] meint in der Sprach- und Medienwissenschaft die Kombination mehrerer Zeichensysteme, etwa Sprache, Bild und Ton. Jedes Zeichensystem verfügt über eigene Ressourcen, Strukturen und Potenziale, die erstmals ausführlich von Gunther Kress und Theo van Leeuwen (1996) beschrieben wurden. Für Bilder konstatiert Nina-Maria Klug (2016: 173ff.) einen hohen Aufmerksamkeitswert, leichte Konzeptualisierung und Memorisierung. So kann ein Bild tatsächlich „mehr als tausend Worte sagen“. Bildzeichen eignen sich daher zur Illustration und Emotionalisierung und gehen in multimodalen Texten eine Beziehung zu anderen Zeichensystem ein, die sie umgeben.

Protestplakate als linguistischer Analysegegenstand

In Anlehnung an Ulrich Schmitz (2011) lassen sich Protestplakate als Sehflächen konturieren, um ihre Bedeutungspotenziale vollständig entschlüsseln zu können. D.h. „Flächen, auf denen Texte und Bilder in geplantem Layout gemeinsam Bedeutungseinheiten bilden“ (ebd: 25). Die Annahme ist also, dass sich das Bedeutungspotenzial eines Protestplakats aus dem Zusammenspiel der genutzten Zeichensysteme Sprache und Bild ergibt. Darüber hinaus sind auf Protestplakaten auch periphere Modalitäten relevant, etwa die Typographie schriftlich realisierter Sprache oder die Positionierung der Bilder (Meer/Pick 2019a: 65-69, 73). Dieses Zusammenspiel wird in der Multimodalitätsforschung als „Orchestrierung der Modalitäten“ (Kress 2010: 157) bezeichnet, ähnlich wie in einem Orchester, in dem verschiedene Instrumente gemeinsam musizieren.

Die Linguistin Constanze Spieß (2019) stellt für deutschsprachige Protestplakate der Fridays for Future fest, dass sie oft von dichotomischen, also gegensätzlichen, Figuren geprägt sind, wie z.B. „Klimawende statt Weltende“ (ebd.), eine Struktur, die erst das positiv konnotierte Fahnenwort und anschließend das negativ konnotierte Stigmawort nennt und so direkt den Ausweg sichtbar macht. Weitere Muster sind nach Spieß (2019) Reimschemata, Vergleiche, Ironie und Kontraste, etwa zwischen früher und heute oder zwischen den Generationen. Auf diese Weise „arbeiten die Freitags-Demonstrant*innen daran, die Glaubwürdigkeit von Spre-cher*innen im Diskurs neu zu verteilen, indem sie sich als eine Gruppe äußern, die nicht ein-mal wahlberechtigt ist“ (ebd.). Mit welchen sprachlichen und multimodalen Mitteln die spanischsprachige Fridays for Future dies tut, zeigt die folgende Korpusanalyse anhand von Protestplakaten anlässlich eines Glo-bal Climate Strikes.

#JusticiaClimáticaYA – Schlagwörter auf Protestplakaten

Die Analyse umfasst 83 Protestschilder, die spanischsprachige Aktivist*innen von Fridays for Future beim Global Climate Strike am 25. September 2020 nutzten. Sie sind über Social Me-dia zugänglich, wo die Lokalgruppen in Argentinien, Chile, Mexiko, Peru und Spanien Fotos der Schilder hochluden, um über die Demonstrationen zu berichten. Ergänzend dazu veröffent-lichten auch Einzelpersonen Fotos von ihren Protestschildern, fügten das Motto des Streiks als #justiciaclimáticaya [Klimagerechtigkeit Jetzt] oder #25S mit Referenz auf das Datum ein und wurden so Teil des digitalen Protestmosaiks.

Erste Erkenntnis: Auf diesen Protestplakaten spielen Schlagwörter eine wichtige Rolle. Sie implizieren etwas, das man tun will oder soll. Zum Beispiel ist justicia climática [Klimage-rechtigkeit] nicht nur häufig – es ist unter den Top 4 des gesamten Korpus –, sondern auch ein Wort mit sehr positiven Konnotationen. Wenn man den Begriff liest, weiß man bereits, dass es sich um ein Konzept handelt, das gefordert und verteidigt werden muss. Im Gegensatz dazu enthält z. B. sistema [zur Beschreibung insbesondere des politischen Systems] hier eine starke negative Konnotation. Das System wird als schuldig für viele Herausforderungen der Gesellschaft dargestellt. Insgesamt gibt es viel mehr positiv besetzte Schlagworte als negative. Deshalb erweckt das gesamte Korpus im ersten Moment den Eindruck einer konstruktiven, lösungsorientierten Kommunikation. Dies stützt aus linguistischer Perspektive die Beschreibung des Politikwissenschaftlers Dieter Rucht von Fridays for Future: „Gezeigt werden vornehmlich die ganz jungen Demonstrierenden mit selbst gebastelten Schildern und individuellen Sprüchen; gezeigt wird häufig auch eine Menschenmasse, die in starkem Kontrast zu den düsteren Szenarien einer möglichen Klimakatastrophe den Eindruck von Zuversicht vermittelt.“ (Rucht 2019: 5f.).

Die Klimakrise sichtbar machen – Zur Multimodalität von Protestplakaten

Nun gilt es zu bedenken, dass diese Protestplakate nicht nur über Sprache kommunizieren. Sie enthalten auch Bilder, sind also multimodal. Hier haben die Bilder eine sehr wichtige Funktion bei der Vermittlung der Forderungen der Bewegung: Sie sind viel spezifischer als die Worte, die die Aktivist*innen wählen.

Ein Plakat zeigt beispielsweise den semantisch sehr allgemeinen Satz „Es un gran error no hacer nada por creer que se hace poco.“ [Es ist ein großer Fehler, nichts zu tun, in der Annahme man könne wenig erreichen.] Dem gegenüber zählt die Abbildung der Erde, die den Rahmen für die sprachlichen Elemente bildet, konkrete Herausforderungen wie Umweltverschmutzung, Abholzung und das Schmelzen der Pole auf. Einige Protestplakate sind ohne Bildelemente sogar gar nicht verständlich. Auf der rechten Seite eines Plakats stellt die Per-son eine Entscheidungsfrage, indem sie sich auf die Farbe Grün bezieht, die zwei Konzepte verknüpft: Sie stellt die Wahl zwischen Geld in Form von grünen Geldscheinen o [oder] Natur symbolisiert durch grüne Bäume. Die (rhetorische) Frage ¿Qué verde mirás? [Welches Grün hast du im Blick?] greift nicht nur eine Farbsymbolik auf, die für den Klimadiskurs zentral ist, sondern impliziert eine grundsätzliche Kapitalismuskritik, die durch das bloße Lesen der Worte nicht hervorgerufen werden würde. Zweites Analyseergebnis: Diese intermodalen Bezüge sind typisch für Protestschilder.

Von der Straße ins Netz – Kommunikationswege im Klimadiskurs

Um abschließend auf die Tatsache zurückzukommen, dass all diese Schilder von Instagram stammen: Soziale Medien stellen heutzutage ein wesentliches Instrument für die Organisati-on von Klimaprotesten dar und prägen, wie über sie gesprochen wird.

Charakteristisch für die Kommunikation der Fridays for Future ist „die intensive Nutzung sozialer Medien“ (Kerschhofer-Puhalo 2020: 80). Hätte Greta Thunberg zu Beginn ihres Schulstreiks im August 2018 in Stockholm keine Bilder auf Twitter und Instagram verbreitet und damit eine wachsende Reichweite erzielt, wäre daraus womöglich keine globale Protestbewegung erwachsen (Meer/Pick 2019b: 163f.). So gilt es heute, nicht mehr nur physisch an Protestaktionen teilzunehmen, sondern auch virtuell Unterstützung zu signalisieren und Texte zu teilen. Soziale Medien ermöglichen so einer noch größeren Masse „by a low-cost effort via social media“ (Brünker et al. 2019: 305), Teil der Bewegung zu sein.

Die Aktivist*innen schreiben also nicht nur Schilder für Offline-Demonstrationen, sondern bringen sie in den digitalen Raum, z. B. um den Protest zu dokumentieren oder um andere Gruppen zu inspirieren. Es gibt online sogar ganze Listen von Slogans als Anregung für den nächsten Streik. Darüber hinaus teilen die Aktivist*innen verstärkt seit der Covid-Pandemie Fotos von sich selbst, auf denen sie das Protestschild halten. Während der Lockdowns war es vielen lokalen Gruppen der Fridays for Future nicht erlaubt, auf der Straße zu protestieren. Indem sie Protestplakate online posten, schaffen die Aktivist*innen ein kollektives Netzwerk des Protests in Social Media. Diese Mechanismen ermöglichten einen Fortgang des Klimaprotests auch abseits von Massendemonstrationen und damit eine neue Form des Protestierens auf Distanz.

Die Folgen dieser Vernetzung sind wiederum auf den Schildern selbst zu sehen. So haben beispielsweise auf Papier geschriebene Hashtags nicht mehr die ursprüngliche Funktion der Kategorisierung und Filterung, weil handgeschriebene Hashtags nicht klickbar sind. Dagegen verweisen sie auf den gesamten Online-Raum des Klimadiskurses.

Protestplakate als Brücke zwischen Offline- und Online-Protest

Eine sprachwissenschaftliche Analyse von Protestplakaten der Fridays for Future zeigt, welche Muster den aktuellen Klimadiskurs prägen. Dazu zählen u. a. eine Nutzung stark positiv konnotierter Schlagwörter, die Konkretisierung von Forderungen durch Bildzeichen und die vielfältigen intermodalen Bezüge zwischen Sprache und Bild. Auf diese Weise verbindet Fridays for Future heutzutage Offline-Demonstrationen auf den Straßen mit Online-Protesten in Soci-al Media. Für einen detaillierten Einblick in die Forschungsarbeit empfehlen wir die Lektüre des Aufsatzes Roether/Wieders-Lohéac (2022).

Belege – in der Chronologie des Beitrags

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Bildquellen

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Für die Analyse der Pressetexte wurde das Textsemantische Analyseraster (TextSem) von Andreas Gardt herangezogen. Es handelt sich dabei um eine Zusammenführung verschiedener Aspekte, die sich auf die Bedeutungskonstitution von Texten auswirken. Diese lassen sich in drei Bereiche einordnen: den kommunikativ-pragmatischen Rahmen, die textuelle Makrostruktur und die textuelle Mikrostruktur.[1]

Theoretische Grundlage

Das theoretische Fundament für die Analyse bildet die Position des Sprachphilosophen John Searle. Diese sieht eine Unterscheidung zwischen rohen und institutionellen Tatsachen vor, mit denen sich eben jene soziale Wirklichkeit beschreiben lässt, in die auch der gesellschaftliche Umgang mit dem Klimawandel und damit die Berichterstattung von Spiegel und taz eingebettet ist.

Textkorpus

Für die Analyse der Berichterstattung über den Klimawandel von Spiegel und taz wurden 18 bzw. 14 Artikel analysiert, von denen sich 6 bzw. 3 explizit auf die Waldbrände in Kalifornien beziehen. Die Artikel sind über die jeweiligen Online-Archive frei zugänglich und im Zeitraum vom 15.09.2020 bis 18.09.2020 erschienen. Die Artikel des Spiegels verteilen sich auf fünf verschiedene Ressorts: „Kultur“ (2), „Panorama“ (1), „Politik“ (7), „Wirtschaft“ (1) und „Wissenschaft“ (7). Die Artikel der taz verteilen sich auf die Ressorts “Öko” (10), “Politik” (3) und “Nord” (1).

Analyseergebnisse

spiegel.de

Die Berichterstattung des Spiegels zu den Waldbränden in Kalifornien, aber auch zum Klimawandel allgemein, zeichnet sich durch eine Kombination mehrerer Aspekte aus. Zunächst liegt dem Spiegel daran, möglichst zeitnah über ein bestimmtes Ereignis zu berichten, welches mit dem Klimawandel zusammenhängt. Das Ereignis wird im Rahmen einer Informationsverdichtung zunehmend multiperspektiviert und multilokalisiert. So kommen Vertreter*innen unterschiedlicher gesellschaftlicher Bereiche zu Wort, während gleichzeitig auch verschiedene gesellschaftliche Ebenen wie Wirtschaft und Politik berücksichtigt werden. Die Multilokalisierung äußert sich unter anderem auch durch die breite Ressort-Verteilung der Artikel, die für die Analyse herangezogen wurden. Die mit einem Ereignis zusammenhängenden institutionellen Gegebenheiten rücken durch die Hervorhebung einzelner Personen meist in den Hintergrund. Beispielsweise wird der damalige US-Präsident Donald Trump in zwei Beiträgen hervorgehoben.[2][3] Politische Institutionen werden aus einer induktiven Perspektive dargestellt, sodass einzelne Personen als Handlungsträger*innen hervorgehoben werden. Diese Hervorhebung insbesondere im politischen Kontext lässt das Narrativ entstehen, die Geschicke der Welt in Bezug auf den Klimawandel lägen in den Händen (politisch mächtiger) Einzelner. Die mikroanalytische Betrachtung der Texte des Spiegels legt diesbezüglich wiederum deduktive Perspektivierungen offen, bei denen von einem größeren Kontext ausgehend eine immer kleinere Ebene betrachtet wird. Sowohl das induktive als auch das deduktive Vorgehen sind in der Darstellung als „Komplexitätsreduktion“ zusammengefasst. Multiperspektivierung und Multilokalisierung sind unter dem Begriff „Multiplikation” zusammengefasst:

Das Berichterstattungsprofil von spiegel.de
Zieht man nun Searles Terminologie von rohen und institutionellen Tatsachen heran, so lässt sich beobachten, dass der Spiegel nach und nach ein Argumentationsschema errichtet, welches zunächst von rohen Tatsachen wie den Waldbränden ausgeht. Die Veränderung oder zukünftige Verhinderung dieser rohen Tatsachen erfordert institutionelle Tatsachen wie beispielsweise die politische Anordnung einer Umstellung auf erneuerbare Energien. Diese werden in Form von Zitaten entweder durch eine Handlungsempfehlung von Expert*innen oder anderen Politiker*innen gefordert oder von der verantwortlichen Politik selbst initiiert. Die Handlungsempfehlung ergibt sich dabei aus der zunehmenden Verdichtung durch eine zeitnahe, multiperspektivische, multilokale und komplexitätsreduzierende Berichterstattung.

„Die Mächtigen der Welt müssen nicht in Panik verfallen, nur mit kühlem Kopf das Richtige tun. So zynisch das klingt, vielleicht kann diese Katastrophe dabei helfen.“[4]

Ob die Handlungsempfehlung jedoch tatsächlich zu neuen oder veränderten rohen Tatsachen führt, bleibt offen. Diese auch teils mit Spekulationen durchzogene Art der Berichterstattung ermöglicht es dem Spiegel immer wieder offene Enden zu kreieren und in anderen Artikeln daran anzuknüpfen. Die Anknüpfbarkeit der Berichterstattung des Spiegels lässt sich folgendermaßen illustrieren:

Rekursivität der Berichterstattung von spiegel.de

taz.de

Der Klimawandel und damit auch die Waldbrände in Kalifornien werden in der taz als Thema stark emotionalisiert. Die taz berichtet nicht nur über den Klimawandel, sondern setzt sich auch aktiv in ihrer Rolle als Massenmedium im mit dem Klimawandeldiskurs auseinander. Dabei erkennt sie auch das konstruktivistische Potential dieses Diskurses. In diesem Zusammenhang setzt sie sich für eine sprachlich klimagerechte Berichterstattung ein.[5] Daneben bietet sie Klimaaktivist*innen, Klimaforscher*innen und auch Politiker*innen (des links-grünen Parteienspektrums) eine Plattform für ihre Perspektiven zum Klimawandel.[6] Statt in Bezug auf den Klimawandel lediglich zu beschreiben oder auch Handlungsempfehlungen auszusprechen, sieht sich die taz auch selbst in der Pflicht zu handeln. Das Wertekonzept der Klimagerechtigkeit stellt damit ein zentrales Anliegen der taz dar. Die abgebildete Darstellung des Berichterstattungsprofils der taz verdeutlicht den Weg zu diesem Ziel:

Das Berichterstattungsprofil von taz.de
In Bezug auf Searles Tatsachenunterscheidung zeigt die Analyse, dass die taz in ihrer Berichterstattung zu großen Teilen institutionelle Tatsachen aufgreift bzw. Themen auf einer institutionellen Ebene betrachtet. Das Einbeziehen des Klimaaktivismus dient der taz dabei als vermittelndes Element zwischen der Klimawissenschaft und der Politik und damit auch zwischen der Klimawissenschaft und der Gesellschaft. Die Klimawissenschaft warnt die Gesellschaft, deren Teil Politik und Klimaaktivismus sind. Die Warnung wird vor allem vom Klimaaktivismus aufgenommen, der daraufhin klimapolitische Vorgänge kritisiert, neue klimapolitische Maßnahmen fordert und sich darum bemüht, weitere Teile der Gesellschaft aufzuklären. Besonders ist dies der Fall, wenn es zu einem Ereignis kommt, das mit dem Klimawandel in Zusammenhang steht (wie eben z. B. die Waldbrände in Kalifornien) oder neue Klimaschutzmaßnahmen beschlossen werden.

„Da helfen am Ende keine Bilder, da hilft wohl nur beharrliche Aufklärung. ‘United behind the Science’ – höchste Zeit, dass die Fridays-for-Future-Kids wieder aus dem Lockdown kommen und den kindischen Wunderglauben der Alten unter Feuer nehmen.“[7]

Im Idealfall sollen die Aufklärung sowie die neu formulierten Klimaschutzmaßnahmen letztlich zu einer klimagerechten Gesellschaft führen. Werden die Klimaschutzmaßnahmen jedoch in ihrem Status Quo belassen und gelingt die Aufklärung über Klimaereignisse nicht, führt dies zu keiner Veränderung; und es bleibt bei einer Gesellschaft, die die Ursachen des menschengemachten Klimawandels reproduziert.

Fazit

Die Analysen der Berichterstattung des Spiegels und der taz zeigen, dass sich durchaus unterschiedliche Perspektiven auf den Klimawandel und mit ihm in Verbindung stehende Ereignisse ergeben können. Grundsätzlich festhalten lässt sich dabei allerdings, dass beide Nachrichtenmedien das Problem ‚Klimawandel‘ für lösbar halten – sie präsentieren dafür jedoch unterschiedliche Ansätze. Der Spiegel nimmt vor allem die Politik in den Blick und weist ihr eine zentrale Rolle in Bezug auf den Klimawandel zu. Ihr gegenüber werden Handlungsempfehlungen von verschiedenen gesellschaftlichen Vertreter*innen ausgesprochen. Die taz nimmt hingegen die Gesellschaft als Ganze in den Blick. Sie analysiert den Umgang der Gesellschaft mit dem Klimawandel und hebt dabei besonders den Klimaaktivismus hervor, der die Gesellschaft bezüglich eines klimagerechten Verhaltens aufklären soll. In Bezug auf John Searles Unterscheidung von rohen und institutionellen Tatsachen lassen sich ebenfalls unterschiedliche Schwerpunkte in der Berichterstattung der beiden Nachrichtenmedien feststellen. Der Spiegel bewegt sich bei der Berichterstattung tendenziell zwischen rohen und institutionellen Tatsachen. Die taz legt einen starken Fokus auf institutionelle Tatsachen. Zwar geht auch sie auf rohe Tatsachen ein, doch stellen diese nur einen Ausgangspunkt für eine analytische Betrachtung der institutionellen Realität um sie herum dar.

Belege

  1. Gardt, Andreas (2012): Textsemantik. Methoden der Bedeutungserschließung. In: Jochen A. Bär & Marcus Müller (Hrsg.): Geschichte der Sprache, Sprache der Geschichte: Probleme und Perspektiven der historischen Sprachwissenschaft des Deutschen. Oskar Reichmann zum 75. Geburtstag. Berlin: Akademie, 61-82.
  2. Stukenberg, Kurt (2020): Die Katastrophe ist da…. In: Der Spiegel. Online, zuletzt abgerufen am 26.03.2021.
  3. Pitzke, Marc (2020): Die Ignoranz. In: Der Spiegel. Online, zuletzt abgerufen am 26.03.2021.
  4. Pitzke, Marc (2020): Die Ignoranz. In: Der Spiegel. Online, zuletzt abgerufen am 26.03.2021.
  5. Schöneberg, Kai; Schäfer Torsten (2020): Besser übers Klima schreiben. In: taz. Online, zuletzt abgerufen am 26.03.2021.
  6. n/a (2020): Klimagerechtigkeit. In: taz. Online, zuletzt abgerufen am 26.03.2021.
  7. Werning, Heiko (2020): Alle mal wegschauen. In: taz. Online, zuletzt abgerufen am 26.03.2021.



Autor*innen

Erstfassung: Tobias Kolle am 01.04.2021. Den genauen Verlauf aller Bearbeitungsschritte können Sie der Versionsgeschichte des Artikels entnehmen; mögliche inhaltliche Diskussionen sind auf der [[Diskussion:Benutzer:Valentina Roether/Werkstatt|Diskussionsseite]] einsehbar.

Zitiervorlage:
Kolle, Tobias (2021): Werkstatt. In: Böhm, Felix; Böhnert, Martin; Reszke, Paul (Hrsg.): Climate Thinking – Ein Living Handbook. Kassel: Universität Kassel. URL=https://wiki.climate-thinking.de/index.php?title=Benutzer:Valentina Roether/Werkstatt, zuletzt abgerufen am 21.11.2024.